Sterben: Roman (German Edition)
Musik, die sich nicht an alle richtete und nicht sonderlich gut verkaufte, aber trotzdem die Erfahrungen einer Generation, meiner Generation repräsentierte. Ah, das Neue. Ich war auf der Seite des Neuen. Und Ian McCulloch von Echo & the Bunnymen verkörperte es mehr als jeder andere. Mäntel, Militärjacken, Basketballschuhe, schwarze Sonnenbrillen. Es war ein himmelweiter Unterschied zu dem Hemd und den Samenschuhen meines Vaters. Andererseits konnte das nicht der entscheidende Punkt sein, denn Vater gehörte ja einer anderen Generation an, und die Vorstellung, dass diese Generation dazu übergehen könnte, sich wie Ian McCulloch zu kleiden, britischen Indiepop zu hören, sich für die amerikanische Szene zu interessieren, das Debütalbum von REM oder Green on Reds für sich zu entdecken und ihrer Garderobe womöglich auch ein Lederhalsband einzuverleiben, war ein Albtraum. Entscheidender war, dass dieses bestickte Hemd und die Samenschuhe nicht er waren. Und dass er in ihnen geradezu entartete, in etwas Formloses und Ungewisses, fast Feminines eintrat, als hätte er sich nicht mehr im Griff. Sogar die Härte in seiner Stimme war verschwunden.
Ich öffnete die Augen und drehte mich so, dass ich den Tisch am Waldrand sehen konnte, wo jetzt nur noch vier Menschen saßen. Vater, Unni, die Frau, die er Bodil genannt hatte, und eine weitere. Auf der Rückseite der Fliedersträucher, für sie nicht zu sehen, wohl aber für mich, stand ein Mann, pinkelte und schaute dabei zum Fluss hinunter.
Vater hob den Kopf und richtete den Blick auf mein Fenster. Mein Herz schlug schneller, aber ich rührte mich nicht von der Stelle, denn wenn er mich wirklich sah, was mir nicht sicher zu sein schien, hätte ich sonst zugegeben, dass ich ihn beobachtete. Stattdessen wartete ich noch einen Moment, bis ich mir sicher war, dass er sah, dass ich gesehen hatte, dass er mich sah, wenn er mich denn sah, ehe ich mich zurückzog und an den Schreibtisch setzte.
Es war unmöglich, Vater zu beobachten, er merkte es immer, hatte immer alles gesehen.
Ich trank ein paar Schlucke Bier. Jetzt hätte ich gerne eine geraucht. Er hatte mich nie rauchen sehen, und vielleicht würde es Streit geben, wenn ich es tat. Aber hatte er mich andererseits nicht eben erst aufgefordert, mir eine Flasche Bier zu holen?
Der Schreibtisch, den ich besaß, solange ich denken konnte, so orange, wie es das Bett und die Schranktüren in meinem alten Zimmer gewesen waren, war abgesehen von einem Kassettenständer vollkommen leer. Als das Schuljahr zu Ende gegangen war, hatte ich alles fortgeräumt und mich seither außer zum Schlafen kaum in dem Zimmer aufgehalten. Ich setzte die Flasche ab, drehte den Ständer ein paarmal und las dabei die Titel, die in meiner kindlichen Druckbuchstabenschrift auf den Kassettenrücken standen. BOWIE – HUNKY DORY. LED ZEPPELIN – I. TALKING HEADS – 77. THE CHAMELEONS – SCRIPT OF THE BRIDGE. THE THE – SOUL MINING. THE STRANGLERS – RATTUS NORVEGICUS. THE POLICE – OUTLANDOS D’AMOUR. TALKING HEADS – REMAIN IN LIGHT. BOWIE – SCARY MONSTERS (And super creeps). ENO BYRNE – MY LIFE IN THE BUSH OF GHOSTS. U2 – OCTOBER. THE BEATLES – RUBBER SOUL. SIMPLE MINDS – NEW GOLD DREAM.
Ich stand auf, griff nach der Gitarre, die angelehnt neben dem kleinen Roland-Cube-Verstärker stand, und schlug ein paar Akkorde an, stellte sie zurück, sah erneut in den Garten hinunter. Sie saßen immer noch in der Finsternis unter den Baumwipfeln, die von den beiden Petroleumlampen zwar nicht aufgehoben, aber doch abgemildert wurde, da ihre Gesichter durch das Licht Farbe annahmen. Dunkel, fast kupferartig waren sie getönt.
Bodil musste eine Tochter von Großvaters zweitem Bruder sein, dem ich nie begegnet war. Er war vor langer Zeit aus irgendeinem Grund aus der Familie verstoßen worden. Ich selbst hatte zwei Jahre zuvor rein zufällig zum ersten Mal von ihm gehört. Jemand aus der Familie hatte geheiratet, und Mutter hatte erwähnt, dass er auch dabei gewesen war und eine flammende Rede gehalten hatte. Er war Laienprediger in einer Pfingstgemeinde in der Stadt. Mechaniker. Alles an ihm war anders als bei seinen zwei Brüdern, sogar der Name. Als sie, in Absprache mit ihrer imposanten Mutter und aus Anlass ihres Eintritts in die akademische Welt und des Beginns ihres Universitätsstudiums, beschlossen hatten, ihren Nachnamen ändern zu lassen, von dem weitverbreiteten Pedersen zu dem etwas selteneren Knausgård, hatte er
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