Sterbensangst (German Edition)
der Himmel seinen allmählichen Übergang von Tiefgrau nach Samtschwarz beinahe vollendet.
Die Wolken hängen immer noch tief und fett über der Stadt, aber der große Schneefall wird noch ein paar Tage auf sich warten lassen. Vielleicht gibt es dieses Jahr ja doch weiße Weihnachten. McAvoy, der in seiner Jugend nichts anderes kennengelernt hat, freut sich vor allem deshalb über die Aussicht, weil seine Frau und sein Kind es sich so sehr wünschen.
Er und Helen Tremberg sind die letzten echten Polizeibeamten im Raum. Ein Hilfspolizist sitzt an einem der freien Schreibtische, und Gemma Tang, die hübsche chinesische Pressesprecherin, steht über den großen Tisch am Fenster gebeugt und streicht weite Teile einer Presseverlautbarung durch. Sie hat eine Modelfigur und einen strammen Hintern, angesichts dessen es Ben Nielsen immer in den Fingern juckt. McAvoy gibt sich alle Mühe, nicht hinzusehen. Einzeln und zu zweit haben die Beamten nach und nach die Einsatzzentrale verlassen. Trish Pharaoh und Ben Nielsen wohnen der Autopsie bei. Die beiden jüngsten Beamten nehmen von den Mitgliedern der Kirchengemeinde Zeugenaussagen auf, die am Vortag noch zu erschüttert waren, um sich zusammenhängend äußern zu können. Sophie Kirkland hat kurz vor dem Lunch einen Anruf von der Besitzerin eines Pubs bekommen, deren Überwachungskameras das unscharfe Bild eines Mannes in Schwarz ungefähr fünf Minuten nach der Attacke festgehalten haben. Mit zwei Uniformierten sucht sie jetzt die Gegend nach Beweismaterial ab.
Colin Ray und Shaz Archer sprechen mit einem Informanten. Er hat sie auf die Spur eines Türstehers vom Kingston Hotel gebracht, mit dem anscheinend sein Plappermaul durchgegangen ist. Wenn man dem Spitzel glauben darf, hatte der Kerl schon immer sehr dezidierte Ansichten über Ausländer und Immigranten, aber kürzlich hat er auch noch seine Frau an den Charme eines iranischen Pizzabäckers verloren. Seitdem redet er ständig davon, dass jemand dafür büßen muss. Das hätte bloßes Geschwätz sein können, doch eine schnelle Überprüfung in der Zentralkartei hat ergeben, dass der Mann bereits zweimal wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen wurde und einmal wegen Körperverletzung. Obwohl Colin Ray eigentlich die Leitung in der Einsatzzentrale übernehmen sollte, hat er sich rargemacht, weil er es vielversprechender findet, in dieser Richtung weiterzuermitteln.
Inspector Shaz Archer, immer in seiner Schleimspur, hat sich angeschlossen. So bleiben nur McAvoy und Helen Tremberg, um die Telefone zu bedienen.
McAvoy geht seine Notizen durch. Er hat seitenweise Namen, Zahlen, Details und Theorien in sein liniertes Heft gekritzelt. Die Schrift ist für jeden außer ihn selbst unleserlich. Er ist der Einzige, der Teeline-Stenographie beherrscht. Die hat er parallel zur Ausbildung in seiner Freizeit erlernt, nachdem ihn die Geschwindigkeit beeindruckt hatte, mit der ein Journalist Zitate eines Beamten niederschrieb, den er einen Tag lang im Dienst begleitete. Es waren sechs Monate gut investierter Zeit, auch wenn er gelegentlich den offenen Spott seiner Kollegen ertragen muss, die sich fragen, ob er jetzt einen Nervenzusammenbruch erlitten hat und seinen Notizblock mit Hieroglyphen füllt.
Die bisherigen Anrufe waren ziemlich belanglos. Das liegt wohl am Sonntagssyndrom. Die Leute unternehmen Ausflüge mit der Familie oder entspannen sich im Pub, und der Polizei Informationen über einen Mord zu liefern klingt eher nach Werktag, Tretmühle, Montag bis Freitag zwischen neun und fünf. Daher ist die befürchtete Anrufflut bisher ausgeblieben. Es lohnt kaum die Überstunden.
Wenigstens nimmt die Einsatzzentrale langsam Gestalt an. Das ist hauptsächlich McAvoy und dem unerwartet geringen Arbeitsaufwand zu verdanken. Er hat eine weiße Tafel aus einem anderen Büro angeschleppt und damit begonnen, die Abfolge der Ereignisse zu skizzieren. Seine Beschreibung des Täters steht mit rotem Markerstift in der Mitte der Tafel. Durchschnittliche Figur. Mittelgroß. Schwarze Kleidung. Balaklava. Feuchte blaue Augen. Viel ist das nicht, das wissen sie alle. Und obwohl McAvoy sich nicht anders hätte verhalten können, plagt ihn ein nagendes Schuldgefühl, weil ihm an seinem Angreifer nicht mehr Details aufgefallen sind.
An der Wand hängt ein Stadtplan. Mit Reißbrettstiften sind darauf in verschiedenen Farben die bestätigten und unbestätigten Sichtungen des Verdächtigen während seiner Flucht vom Trinity Square markiert.
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