Sterbensangst (German Edition)
Menschen und stolze Hausfrauen. Arm, aber so reinlich, dass man vom Fußboden essen konnte.
Jetzt nicht mehr. Vor etwas über dreißig Jahren starb die Fischereiindustrie.
Die Regierung hatte sie einfach abgeschrieben. Sie den Europäern überlassen und gesagt: Greifen Sie zu! Den Briten wurde weisgemacht, sie sollten froh sein, dass die Fischerei überhaupt so lange hatte existieren können. Und Tausende von Fischern bekamen zu hören, sie sollten sich gefälligst nach Hause verpissen.
Die Söhne der Trawlerfischer von der Ostküste, der Fischverarbeiter, der Großmarkthändler und Seeleute waren in den 1970er Jahren die erste Generation seit drei Jahrhunderten, die feststellen musste, dass sie vom Ozean nicht mehr leben konnte. Überhaupt ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen konnte, es sei denn, einer hatte ein Einser-Abitur und den richtigen Akzent. Sie meldeten sich arbeitslos. Versoffen ihre Sozialhilfeschecks. Zeugten Kinder, die dem Beispiel von Mama und Papa folgten und zu Teenagern heranwuchsen, die sich damit amüsierten, Autos zu stehlen und Bushaltestellen zu verwüsten, in Apotheken einzubrechen und junge Mädchen in nach Benzin stinkenden Garagen zu schwängern. Das langsame Sterben von Orchard Park begann.
Vor zehn Jahren begriff der Stadtrat von Hull endlich, was die Bürger schon längst wussten. Die Stadt ging auf dem Zahnfleisch. Die Einwohnerzahl sank. Jeder, der Geld hatte, zog in die umliegenden Ortschaften und Dörfer. Für die Studenten war Hull nur eine Zwischenstation auf dem Sprung zu wohlhabenderen Städten. Die Banken fingen an, den Bewohnern von Sozialsiedlungen Kredite ohne Sicherheiten anzubieten, damit sie sich Doppelhaushälften in irgendeiner der neuen Siedlungen kaufen konnten, die am Stadtrand aus dem Boden schossen und alle gleich aussahen. Im Jahr 2000 gab es zehntausend leerstehende Wohnungen in Hull, und die meisten davon lagen im Orchard Park. Dann begann der Abriss in großem Stil.
Hier und da findet man trotzdem noch stolze Hausbesitzer. Zwischen den vielen schwarzen Zähnen und dem fauligen Zahnfleisch der ausgebrannten und verwüsteten Häuser steht immer noch hie und da ein gesunder, weiß gestrichener Backenzahn. Die Rasenflächen sind saftig grün. Die Erde ist kaffeebraun. Blumenampeln baumeln neben doppelt verglasten Türen mit weißen Stores. Dies sind die Häuser der Menschen, die nicht gehen wollen. Die glauben, dass Orchard Park noch zu retten ist. Dass die kriminellen Elemente weiterziehen werden. Dass die Hochhäuser irgendwann einstürzen. Dass die Immobilien, in die sie die Ersparnisse ihres ganzen Lebens gesteckt haben, bald richtige Schnäppchen sein werden.
Auf beiden Seiten eines schlaglochübersäten Streifens Asphalt, umgeben von eisernen Läden und geschwärztem Stein, stehen sie sich gegenüber. Wie zwei kleine, hübsche Strandhäuschen.
Obwohl in Nummer 59 Licht brennt, sind die Besitzer nicht zu Hause. Warren Epworth hat in der vergangenen Nacht eine Angina-Pectoris-Attacke erlitten und wurde vorsichtshalber ins Hull Royal Infirmary eingeliefert. Seine Frau Joyce ist solange zu ihrer Tochter nach Kirk Ella gezogen. Die Tochter hofft, dass der Umzug von Dauer sein wird, auch nach der Entlassung ihres Vaters. Sie betet darum, dass das Haus, während es unbewohnt ist, ausgeraubt wird. Verwüstet. Bis auf die verdammten Grundmauern niedergebrannt. Ihre Eltern brauchen einen handfesten Beweis, dass die Siedlung nicht mehr zu retten ist. Sie müssen ausziehen.
Heute Nacht befinden sich im Wohnzimmer des Hauses, das die Epworths zweiundvierzig Jahre lang bewohnt haben, zwei Männer.
Der eine trägt eine schwarze Balaklava. Einen schwarzen Pullover. Schwarze Kampfstiefel.
Er hat nasse blaue Augen.
Der andere Mann liegt auf einem Sofa mit Blumenmuster. Er ist bekleidet mit einem alten Manchester-United-Shirt, Jogginghose und Turnschuhen. Er wirkt dürr und ungepflegt, seine Arme sind schorfig und mit Gänsehaut überzogen, sein Gesicht ist unrasiert und verhärmt. Die Lippen sind verklebt von geronnenem Blut, und einer seiner Zähne steht aus fauligem, blutigem Zahnfleisch schief nach innen ab.
Seine Augen sind geschlossen.
Er stinkt nach Alkohol.
Der Mann mit der Balaklava sieht sich im Wohnzimmer um. Betrachtet die kunstvoll gerahmten Fotos auf dem Kaminsims. Die lächelnden Porträts. Die neugeborenen Babys und Enkel in ihren Sonntagskleidern. Schulfotos. Ein rotstichiges Hochzeitsfoto von einem älteren Paar, das sich am Kopfende
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