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Sterbensangst (German Edition)

Sterbensangst (German Edition)

Titel: Sterbensangst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mark
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sie sollten sich verpissen. McAvoys Gesicht ist immer noch knallrot angelaufen, weil die nackte, dicke Frau im Fenster im ersten Stock des Hauses, aus dem der ursprüngliche Notruf kam, ihn ›Hoss‹ genannt hatte. Daher weiß keiner der beiden Detectives, ob die geöffnete Tür auf ein Willkommen hindeutet oder man ihnen gleich eine Schrotflinte unter die Nase halten wird.
    »Es geht um gegenüber, nicht wahr?«
    Der Mann auf den Eingangsstufen ist Mitte sechzig und so kahl wie eine Bowlingkugel. Er ist klein, aber drahtig, und seine Krawatte mit den Insignien der Handelsmarine ist makellos gebunden. Sein weißes Hemd steckt im Bund einer Hose, deren Bügelfalten so scharf sind, dass man damit Wurst an der Fleischtheke schneiden könnte. Er hält sich sehr gerade, und obwohl er sein Outfit mit einem Altherren-Twinset vervollständigt hat, mit Strickweste und Pantoffeln, strahlt er etwas Respekteinflößendes aus. Auch wenn er in der Tür eines kleinen Reihenhauses in einer fast verlassenen Straße im übelsten Viertel der Stadt steht, erinnert seine Haltung McAvoy an einen Landedelmann, der die große Doppeltür eines stattlichen Herrenhauses öffnet.
    »Jack Raycroft«, sagt er und reicht McAvoy eine mit Altersflecken übersäte, aber feste Hand. Er erweist Helen Tremberg dieselbe Höflichkeit und nickt dann. »Schlimme Geschichte«, meint er. Er spricht den hiesigen Akzent.
    »So ist es«, sagt McAvoy, nachdem sie sich ausgewiesen und vorgestellt haben.
    »Warum musste es ausgerechnet dieses Haus sein«, seufzt Raycroft. »Es stehen doch genügend Häuser leer. Warum sucht sich jemand das eine aus, auf das man noch ein bisschen stolz sein kann? Das ist ja fast so, als wäre Stolz ein Verbrechen.«
    Zu dritt betrachten sie das Haus auf der anderen Seite der engen Straße. Es ist kaum noch zu erkennen, dass es bis vor zwei Tagen ein gepflegtes Heim war. Jetzt sieht es genauso verfallen und zerstört aus wie seine Nachbarn. Die Fassade ist von Rauch geschwärzt, und die Spanplatte, die jemand über das zerbrochene Vorderfenster genagelt hat, ist bereits mit Graffiti beschmiert. Eine Leinwand für obszöne Kritzeleien und gesprayte Tags.
    »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie bereits mit den Kollegen von der Streife gesprochen?«
    »Ja, ja. Nicht dass es da viel zu erzählen gäbe. Mein Freund Warren lag mit einem Anfall von Angina Pectoris im Krankenhaus. Joyce, seine Frau, ist solange zu ihrer Tochter aufs Land gezogen. Wir sahen uns gerade einen Kostümfilm in der BBC an. Die Sirenen hörten wir ungefähr zur gleichen Zeit, als wir die Flammen sahen. Nicht dass wir auf die Sirenen geachtet hätten. Die hört man hier Tag und Nacht. Aber diesmal kamen sie definitiv in unsere Richtung. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, was los war. Es quoll bereits Rauch aus dem Haus. Trotzdem war es die offene Tür, die mir zuerst auffiel. Es ist schon seltsam, wie der Verstand arbeitet, nicht wahr? Man lässt hier in der Gegend nie eine Tür offen stehen. Sie wohnten schon fast so lange hier wie wir. Sie wussten es besser.«
    Tremberg greift in die Tasche ihrer Regenjacke und zieht ein paar Blätter hervor, die sie gestern Abend noch im Büro ausgedruckt hat. Es ist eine Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungsergebnisse, leider jämmerlich kurz. »Das Schloss wurde geknackt«, nickt Tremberg, als wollte sie sich selbst dazu gratulieren, dass sie sich an diese Tatsache erinnert hat. »Sehr professionelle Arbeit.«
    »Geht gar nicht anders«, meint Raycroft. »Bei einer doppelt verglasten Tür wie der. Die haben sie aus Sicherheitsgründen angeschafft.«
    Von weiter drinnen im Haus ertönt eine Frauenstimme. »Ist das schon wieder die Polizei, Jack?«
    Er verdreht die Augen, und die beiden Beamten erwidern sein schwaches Lächeln. »Meine Frau«, sagt er. »Hat es schwer mitgenommen.«
    »Das kann ich mir vorstellen«, nickt McAvoy.
    »Ich würde Sie ja hereinbitten, aber ich glaube, das würde sie zu sehr aufregen.«
    »Nur keine Umstände«, sagt McAvoy, dem es nichts ausmacht, vor der Tür herumzustehen.
    Wenn es nach der Blumentapete an der Wand der Diele geht, stellt er sich das Wohnzimmer als ein wildes Sammelsurium aus Schondecken und Spitzen vor, dekoriert mit Fotos von Enkelkindern und ausgestopften Enten in Flughaltung. Er weiß instinktiv, dass der Anblick ihn traurig machen würde. Er hegt große Bewunderung für die Menschen hier, die sich nicht einschüchtern lassen und sich weigern wegzuziehen, selbst

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