Sterbensangst (German Edition)
wenn der gesunde Menschenverstand ihnen rät, lieber zu verkaufen. Aber im Grunde weiß er, dass ihr Widerstand zwecklos ist. Die Erben werden das Haus nach ihrem Tod an die erstbeste Baugesellschaft verschleudern, die hier alles abreißen und Wohnsilos für Asylbewerber hochziehen will.
»Komische Sache, finden Sie nicht? Die Fotografien und all das zurückzulassen?«
McAvoy nickt höflich, und erst eine Sekunde später dämmert ihm, dass er keine Ahnung hat, wovon der Mann redet. »Was meinen Sie, Sir?«
»Das sagte ich schon Ihrem uniformierten Kollegen: Auf dem Rasen vor dem Haus lag eine große Sporttasche voll mit den Fotografien von Warren und Joyce. Sie standen auf dem Kaminsims. Vielleicht hat das Opfer ja einen Raubzug unternommen und das Zeug zum Fenster rausgeworfen, bevor es sich zu einem schnellen Nickerchen entschloss. Immerhin ist es das einzig Gute an der Sache – sie haben keines ihrer Erinnerungsstücke verloren.«
McAvoy sieht Tremberg fragend an, doch die zuckt die Achseln. Ihr ist das auch neu.
»Wo sind die Fotos jetzt?«
»Ich habe sie an mich genommen«, sagt Raycroft sachlich. »Mitsamt der Tasche. Ich wollte sie der Tochter mitgeben, wenn sie vorbeikommt. Das ist doch in Ordnung, oder?«
McAvoy dreht sich um. Betrachtet das ausgebrannte Haus. Begreift es nicht. Warum sollte sich jemand die Mühe machen, die Familienfotos zu retten, bevor er ein Haus mit einem menschlichen Wesen darin in Brand steckt? Er denkt an das zurück, was in der Nacht zuvor gesagt wurde. Dass die Tochter des Hausbesitzers froh sein würde, wenn ihre Eltern nun wegziehen müssen aus der Gegend. Einen Augenblick lang fragt er sich, ob ihre Sorge um die Sicherheit ihrer Eltern hätte ausreichen können, um das eigene Haus anzuzünden, oder ob es einfach nur Zufall und Fahrlässigkeit war.
»Jack, mein Lieber. Sprichst du mit der Polizei?«
»Dauert keine Minute mehr, Liebes«, ruft Raycroft über die Schulter.
»Wir sind gleich fertig«, nimmt Tremberg das Stichwort auf, während ihr Kollege ins Leere starrt und sich die Zunge in die Backe schiebt, als versuchte er einen Gedanken festzuhalten.
»Wissen Sie schon, wer der arme Hund war?«, fragt der alte Mann und sieht dabei Tremberg an. Er reckt sich ein bisschen, als wäre es ihm unangenehm, zu einer Frau hochblicken zu müssen, die halb so alt ist wie er. »Warum hat er sich ausgerechnet dieses Haus für sein Nickerchen ausgesucht? Wir haben in den Nachrichten von dem Feuer im Hull Royal gehört, und dass das Opfer auch darin verwickelt war. Aber als sie ihn abtransportierten, sah es nicht so aus, als könnte er sich so bald wieder eine Zigarette drehen …«
McAvoy und Tremberg wechseln einen Blick und kommen zu dem Schluss, dass dieser nette alte Knabe ein bisschen Ehrlichkeit verdient hat.
»Das Feuer im Krankenhaus wurde vorsätzlich gelegt«, beginnt Tremberg. »Jemand schlich sich in sein Zimmer, tränkte ihn mit Feuerzeugbenzin und steckte ihn in Brand.«
»Du meine Güte«, sagt Raycroft und sieht McAvoy fragend an. Der nickt fast unmerklich.
»Es war definitiv derselbe Mann, der den Brand im Haus Ihres Nachbarn überlebt hat. Er hatte eine beinahe tödliche Menge Alkohol im Blut. Die plausibelste Theorie lautet, dass er vom Pub nach Hause ging, das falsche Haus erwischte, sich eine Zigarette anzündete und darüber einschlief. Wir konnten ihn inzwischen identifizieren. Sagt Ihnen der Name Trevor Jefferson etwas?«
»Jefferson«, sagt Raycroft und findet in die Gegenwart zurück. »War das nicht der Bursche, dessen Familie bei einem Brand gleich um die Ecke ums Leben kam? Ein paar Straßen weiter?«
McAvoy nickt. Er hofft, dass Tremberg geistesgegenwärtig genug ist, sich zurückzuhalten und dem alten Mann keine Worte in den Mund zu legen.
»Das ist richtig, Sir. Seine Frau, zwei Kinder und ein Stiefkind erlagen ihren Verletzungen.«
»Aye«, sagt Raycroft und streicht sich mit der Hand übers Gesicht. »Ein paar Jahre her, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Mein Gott.« Er starrt über die Straße auf das ausgebrannte Haus und tastet dann die Taschen seiner Strickjacke ab. Er fördert eine Dose Zigarettentabak zutage und dreht sich mit dieser achtlosen Geschicklichkeit, die McAvoy immer wieder fasziniert, ohne hinzusehen eine dünne Zigarette. Er zündet sie mit einem Streichholz an und raucht sie auf eine Art, die McAvoy an seinen Vater erinnert; die Glut in der hohlen Hand verborgen, die Zigarette zwischen vier Fingern und Daumen gehalten.
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