Sterbensangst (German Edition)
fast alle geblieben. Wer noch zu Hause war und ein Auto hatte, das sich auf der Straße halten konnte, ist nachgekommen. Doch die Gespräche in den unheimlichen leeren Stationen und Gängen drehen sich nur um ein Thema: wie sie wieder nach Hause kommen. Ob ihre Autos überhaupt noch anspringen werden.
»Hier drinnen sind wir am besten aufgehoben«, sagt McAvoy und stemmt sich aus dem Stuhl.
Er beugt sich über Roisins Schulter und sieht aus dem Fenster. Lächelt schief, als er das kleine Grüppchen gebrechlicher alter Männer und übergewichtiger Frauen sieht, die mit rasch über die Pyjamas geworfenen Mänteln vor dem Ausgang stehen und hektisch an ihren Zigaretten saugen; ihre Lungen gierig mit Rauch füllen wie ein Diabetiker, der dringend eine Insulinspritze braucht.
McAvoy blickt zu Boden. Plötzlich spürt er das Mobiltelefon in seiner Tasche. Es sendet Wellen von Energie aus. Er spürt ein Zucken in den Fingern, und der Drang, es einzuschalten, wird übermächtig. Er möchte sich wieder einklinken. Herausfinden, was er in den vergangenen drei Tagen voller Schmerzen und Gebete verpasst hat.
»Roisin, hast du etwas dagegen, wenn ich …«
Sie lächelt. Nickt beinahe unmerklich.
McAvoy bleibt am Bettchen seiner Tochter stehen. Streicht ihr mit seinen großen, rauen Fingern über die sanfte weiche Wange. Aprikosen, denkt er. Sie hat Bäckchen wie Aprikosen.
Dreiundvierzig Anrufe in Abwesenheit.
Siebzehn Textnachrichten.
Eine bis zum Überlaufen gefüllte Mailbox.
Am Eingang zur Entbindungsstation lauscht McAvoy dem aufgezeichneten Stimmengewirr.
Findet den Anruf, auf den er gehofft hat.
»Hi, Sergeant McAvoy. Hier spricht Vicky Mountford. Wir haben uns neulich über Daphne unterhalten. Hören Sie, vielleicht ist es ja nicht wichtig, aber …«
McAvoy hört den Rest der Nachricht ab. Kneift sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel.
Ruft sie zurück.
Beim zweiten Läuten geht sie ran.
»Miss Mountford, hallo. Ja, tut mir leid. Vicky. Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Sie sagten, dass noch jemand anderes Daphnes Aufsatz gekannt haben könnte. Ist das richtig?«
»Ja, ja«, bestätigt sie. »Also, ich habe mit meiner Schwester telefoniert, wie ich schon in meiner Nachricht sagte. Ein oder zwei Tage nach unserer Unterhaltung. Wir kamen auf Daphne zu sprechen, und wie unheimlich und schrecklich die Geschichte doch ist, und da fiel ihr wieder ein, dass sie ihrem Freund von Daphnes Vergangenheit erzählt hatte. Sie holte ihn an den Apparat, und er klang ziemlich betreten. Um es kurz zu machen: Er hatte eines Abends bei ein paar Drinks jemandem von diesem armen, schwarzafrikanischen Mädel erzählt, das in Hull gelandet war. Und von ihrem fabelhaften Aufsatz über die schrecklichen Dinge, die sie in ihrer Heimat erlebt hatte, und dass das ein toller Stoff für ein Buch wäre …«
McAvoy schließt die Augen. Er nickt, aber er sagt kein Wort. Er weiß schon, worauf das hinausläuft.
»Und wo war das?«
»Southampton«, erwidert sie mit einem Staunen in der Stimme, als läge es hinter dem Mond. »Er hatte dort ein Vorstellungsgespräch. Er ist ein ewiger Student, unser Geoff.«
»Und?«
»Na ja, das ist der springende Punkt«, meint sie. »Geoff weiß nicht mehr, wie das Gespräch darauf kam, aber der Typ schien wirklich interessiert zu sein. Sagte, er sei Schriftsteller. Und Geoff will ja auch eines Tages ein Buch schreiben. Deshalb hat er den Typen ausgefragt. Und ihm dabei alles erzählt, was er von Daphne wusste, auch wenn das nicht viel war. Anschließend hat er die Geschichte einfach vergessen, sozusagen. Bis …«
McAvoy fröstelt. Plötzlich fühlt er sich schrecklich hungrig. Sehnt sich nach Zucker.
»Bis?«
»Vor ein paar Tagen hat er die Website der Hull Mail aufgerufen. Und er sah den Mann, der unter Anklage gestellt wurde. Diesen Chandler. Diesen Schriftsteller, und …«
»… und es ist derselbe Mann?«
Sie schweigt, aber McAvoy kann das Nicken hören.
Erst sagt er gar nichts, dann lässt er sich Geoffs Namen und Adresse geben. Versichert ihr, dass sie richtig gehandelt hat. Dass ein Beamter eine förmliche Aussage vom Freund ihrer Schwester aufnehmen wird, und dass er Chandler eventuell identifizieren muss. Einen Augenblick lang überlegt er, wie man wohl eine Auswahl von passenden, einbeinigen Säufern für eine Gegenüberstellung finden will.
Als er auflegt, sieht er sein eigenes Spiegelbild im dunklen Glas der Tür zur Entbindungsstation.
Stellt fest, dass er
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