Sterbensangst (German Edition)
Konzentrierte all ihre Energie darauf, die kilometerweite Kälte zwischen ihnen zu überbrücken. Damit er nach Hause kam und ihr half.
Ihre Schreie hatten Fin geweckt. Es war seine Idee gewesen, den Notruf zu wählen. Er war es auch, der sagte, dass Papa eben manchmal arbeiten musste und nicht da sein konnte, auch wenn man es sich noch so sehr wünschte. Er hielt ihre Hand im Krankenwagen, während die Sanitäter hinter vorgehaltener Hand über den großen Blutverlust tuschelten, über das Eis und den Schnee auf den Straßen, und dass man für die Nachtschicht unter solchen Bedingungen eigentlich doppelten Lohn verdient hätte.
Roisin hatte versucht durchzuhalten. Das Baby in sich zu behalten, bis die Krankenschwestern ihren Mann erreichen konnten. Aber Lilah hatte nicht länger warten wollen. Schlüpfte in einem Regenbogen aus Blut und Schleim in die Welt und wurde von einem kahlköpfigen, bebrillten, nigerianischen Doktor in Empfang genommen, der sie eilig zu einem bereitstehenden, blankgeschrubbten Tisch trug und komplizierte Handgriffe an ihrer winzigen Gestalt vollführte.
Für Roisin sah es so aus, als versuchten sie, einem toten Vögelchen Leben einzuhauchen.
Sie hatte sich abwenden müssen. Die Augen geschlossen. Das Schlimmste befürchtet.
Bis sie den ersten Schrei hörte.
Lilah war schon vier Stunden alt, rosa und zerknittert, einen Beatmungsschlauch an die Wange geklebt, mit übergroßen Socken und Fäustlingen an Händen und Füßen, als ihr Vater endlich sein rotes, verschwitztes, tränenüberströmtes Gesicht gegen den Plastikinkubator presste und die erste von tausend Entschuldigungen hervorstieß, die er in den nächsten Stunden stottern sollte.
Als die Krankenschwester ihm seine Tochter reichte, passte sie genau in seine Handfläche.
Darüber musste Fin lachen. Fragte, ob er auch einmal so winzig gewesen sei. McAvoy verneinte. Dass seine Schwester nur so große Sehnsucht nach ihm gehabt hatte, dass sie zu früh auf die Welt gekommen war. Dass er jetzt ein großer Bruder sei und die Aufgabe hätte, sie zu beschützen.
Fin nickte ernsthaft. Drückte seiner Schwester unbeholfen einen feuchten Kuss auf den Kopf. Dann kehrte er in das Spielzimmer voller lädierter, aus Spendensammlungen stammender Spielsachen zurück, wo er in dem Moment, als seine Schwester ihren ersten Schrei ausstieß, gerade ein nur noch dreirädriges Feuerwehrauto herumgeschoben hatte.
»Schläft sie immer noch?«, fragt Roisin.
»Tief und fest. Kommt nach ihrer Mutter.«
»Die letzten paar Tage waren anstrengend.«
»Ja.«
Sie spannt sich, als wollte sie vom Knie ihres Ehemanns herunterrutschen, aber dann lockern sich ihre Muskeln unter seinen festen Händen wieder, und sie sinkt zurück in seine Arme.
»Lass sie schlafen.«
»Wir hätten sie beinahe verloren, Aector. Wenn sie gestorben wäre … wenn sie nicht aufgewacht wäre …«
Er spürt ihr Zittern, zieht sie fester an sich und wischt ihr die Tränen ab.
Nach einer Weile stellt er ihr noch einmal die Frage, mit der er Rotz und Wasser heulend herausgeplatzt ist, als er vor drei Tagen ins Zimmer gestürmt kam, mit von Schnee triefendem Mantel und an jedem Arm einen Sicherheitsbeamten wie einen Wasserskiläufer über den grünen Linoleumboden hinter sich herschleifend.
»Kannst du mir jemals verzeihen?«
Sie beantwortet die Frage wie schon beim ersten Mal mit einem strahlenden Lächeln. Und einen unbezahlbaren Augenblick lang fühlt sich McAvoy so glücklich, so sehr geliebt und überreich beschenkt, dass er sich fast wünscht, ihm würde das Herz stehen bleiben. Um glücklich zu sterben.
Als Roisin diesmal aufstehen will, hält McAvoy sie nicht zurück. Wieder zuckt sie schmerzhaft zusammen. Streckt die Arme aus und zieht die Vorhänge beiseite.
»Du meine Güte.«
Sie sind im vierten Stock, in einem der wenigen Einzelzimmer der Entbindungsstation. Von hier oben haben sie freien Blick auf die beinahe gestaltlos gewordene Stadt. Alles ist von einer dicken weißen Schneedecke verschluckt und unkenntlich gemacht, ihre Wahrzeichen, ihre Eigenheiten, ihr Charakter. Die Straßen liegen weitgehend verlassen. Roisin verrenkt sich den Hals. Späht auf den Parkplatz hinunter. Er ist so gut wie leer. Ein halbes Dutzend große Fahrzeuge mit Allradantrieb stehen über die Fläche verteilt wie Inseln in einem riesigen Eisstadion. Im Krankenhaus hält nur noch eine Notbesatzung die Stellung. Diejenigen, die gerade Dienst hatten, als der Schnee zu fallen begann, sind
Weitere Kostenlose Bücher