Sterbenswort: Thriller (German Edition)
Laura verabredet, um gemeinsam mit ihr zu lernen. Als sie in Lauras Zimmer im Studentenwohnheim eintraf, spiegelte alles Ordentlichkeit und Regelmäßigkeit wider. Sämtliche Möbelstücke standen im rechten Winkel zueinander. Das Bett war so akkurat gemacht, als entstammte es einem Möbelprospekt.
Selbst die Bücher und der Notizblock auf dem Schreibtisch lagen parallel zueinander; Füller, Bleistift und Textmarker daneben, ihre Unterkanten in einer Linie, der Größe nach geordnet.
Bei Kathrins Tante Hilde dagegen war es so gewesen, dass sie sich ständig und überall die Hände gewaschen hatte.
»Aber die sind doch gar nicht schmutzig, Tante Hilde«, hatte Kathrin als Kind immer wieder zu ihr gesagt. Hilde ignorierte den Einwurf. Stattdessen verschwand sie stets im Badezimmer, und man hörte kurz darauf das Wasser rauschen.
An einem Ostersonntag, als Hilde bei Kathrins Eltern zu Gast war, zählte das Mädchen im Laufe des Nachmittags vierzehn Gänge ins Bad; ihr Vater und ihre Mutter schienen sich längst daran gewöhnt zu haben.
In ihrem Studium hatte Kathrin gelernt, dass der von einer Zwangsstörung Betroffene sich in den meisten Fällen der Unsinnigkeit seiner Handlungen bewusst ist.
Als sie sich gerade eben zum dritten Mal vergewisserte, dass sie die Wohnungstür abgeschlossen hatte, diagnostizierte sie die psychische Störung bei sich selbst.
Mit aller Kraft drückte sie gegen die Tür.
Ja, sie war ins Schloss gefallen.
Sie steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch, drehte ihn erneut bis zum Anschlag.
Du hast bereits zugesperrt, Kathrin.
Und in diesem Moment dachte sie an André Scheuner, Laura Baumeister und Tante Hilde.
›Hirnstoffwechselstörung‹ nannten die Lehrbücher als eine der möglichen Ursachen, wahrscheinlicher schien Kathrin bei ihr selbst eine andere, eine seelische.
Erik kam ihr in den Sinn. Sie sah ihn, wie er – völlig problemlos – die Tür öffnete und in ihre Wohnung schritt. Seine Lippen formten einen kleinen Kreis. Pfiff er vor sich hin?
Er ging in Mias Schlafzimmer, direkt auf das Kinderbett zu.
Kathrin schüttelte den Kopf, verdrängte den Gedanken und – rüttelte erneut am Türknauf.
Jetzt aber los, du kommst zu spät, Kathrin.
Sie gab sich einen Ruck und eilte die Treppen hinab. Bei der ersten Biegung vergewisserte sie sich mit einem Blick über die Schulter, dass die Wohnung auch tatsächlich unzugänglich war.
Ja, Kathrin, alle Drehregler des Gasherds stehen auf null.
Ja, du hast die Wasserhähne zugedreht.
Ja, alle Fenster sind geschlossen.
Beim Verlassen ihres Autos vor der Arztpraxis rüttelte sie nur einmal an der Wagentür. Die Scham war größer als der Drang.
Was, wenn sie jemand beobachtete?
André, Laura und Hilde begleiteten Kathrin während ihres ganzen Arbeitstags, auch Erik.
Warum nur hatte sie Amelie nicht überzeugen können?
Zweifelte die frühere Freundin ihre Worte an?
Glaubte Amelie etwa, sie verlöre den Verstand?
Da sind deine Zwangshandlungen, Kathrin, und deine Selbstgespräche. Vielleicht bildest du dir all das andere nur ein. Dein schlechtes Gewissen, Kathrin. Über Jahre hinweg hast du es verdrängt. Sie holen dich nun ein, die Geister, die du gerufen hast.
»Frau Voss?«
Kathrin schreckte hoch aus ihren Gedanken.
Wie lange stand Schwester Maren bereits im Türrahmen und beobachtete sie?
»Alles in Ordnung?«
Kathrin nickte.
»Kann ich den nächsten Patienten hereinbitten?«
»Ja. Danke.«
Der Nachmittag zog sich genauso in die Länge wie der Vormittag.
Einmal hatte sie einer Patientin ein falsches Medikament aufgeschrieben, zum Glück hatte sie es gerade noch rechtzeitig bemerkt.
Ob sie mal Urlaub nehmen sollte?
Aber sie konnte Mesut doch nicht mit der Praxis alleinlassen!
Das Telefon klingelte, sie hob ab.
»Ja?«
Schwester Maren war am anderen Ende der Leitung.
»Eine Frau ist dran, privat. Ich habe ihr gesagt, dass wir das Wartezimmer voll haben. Doch sie sagt, es sei dringend.«
»Wie heißt sie?«
»Eine Amelie Stutzkeis.«
»Stellen Sie durch.«
»Kathrin?«
»Ja.«
»Ich habe ihn auch gesehen!«
Die Frage ›Wen?‹ erübrigte sich für Kathrin. Sie schluckte.
Amelie fuhr fort:
»Ich bin gestern Abend am U-Bahnhof Warschauer Straße von der Tram in die U-Bahn umgestiegen.«
Kathrin hörte, wie Amelie Luft holte.
»Er stand am Bahnsteig, nur durch die Glasscheibe von mir getrennt. Er sah mir direkt in die Augen.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Gerade in dem Moment, als ich ihn
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