Sterbenswort: Thriller (German Edition)
hinter der Bushaltestelle. ›Kindergarten Kunterbunt‹ stand auf einer Tafel am übermannshohen Zaun, der den Außenbereich umschloss und verhinderte, dass eines der Kinder ausbüchsen konnte. Die Gestaltung des ehemals grauen, nur einstöckigen Hauptgebäudes hatte man den Kindern selbst überlassen. Es wirkte gerade so, als hätte ein von Dämonen besessener Maler sich ausgetobt. Striche, Kreise, Flächen und Handabdrücke in allen Farben des Spektrums. Sie boten ein chaotisches Durcheinander auf der Fassade und machten so dem Namen des Kindergartens alle Ehre.
Doch der Mann hatte nur Augen für die Kinder selbst, genauer gesagt für eines von ihnen.
Als der Bus kam, ignorierte er ihn.
Er wartete auf seine Chance. Sie kam, als das beobachtete Kind sich endlich alleine dem Zaun näherte.
Von einer Erzieherin war weit und breit nichts zu sehen.
Sich sein dunkelgrünes, neutrales Basecap ins Gesicht ziehend, ging er auf das Mädchen zu. Er kannte dessen Namen: Mia Voss.
Beim ersten Besuch hatte er ihr mit verstellter Stimme seinen Namen verraten und ihr den Zaubertrick mit dem abgeschnittenen Zeigefinger gezeigt.
Er suchte Blickkontakt, zwinkerte und lächelte. Mia sah ihn skeptisch und ängstlich an.
Als wolle er ein Geheimnis mit ihr teilen, streckte er Mia eine Faust entgegen. Neugierig kam Mia heran und starrte darauf. Er öffnete sie in einer Geschwindigkeit, als habe er alle Zeit der Welt.
Mias Augen weiteten sich, als sie den Ring in der Handfläche entdeckte.
Sie brauchte nur durch die engen Maschen des Zauns zu greifen, durch die die Hand eines Erwachsenen nicht mehr hindurchpasste.
Doch sie zögerte.
Der Mann sah sie auffordernd an.
Mia schüttelte den Kopf.
»Ich darf nichts von Fremden nehmen – und ich darf nicht mit dir reden«, flüsterte sie.
Der Mann verstand und ging in die Knie. Den Ring nahm er zwischen Daumen und Zeigefinger und führte ihn durch eine Öffnung des Zauns. Dort ließ er ihn zu Boden gleiten.
Dann stand er wieder auf und drehte sich um.
Er wusste, dass Mia nach dem Fingerring greifen würde. Jedes Kind würde dies tun, vermutlich auch die meisten Erwachsenen.
»Mia!«, brüllte eine weibliche Stimme, und er sprintete davon.
Während er sich immer wieder umsah und zufrieden feststellte, dass ihm niemand folgte, rannte er über Umwege zur Wohnung von Kathrin Voss. Aus sicherer Entfernung sah er, wie sie das Haus verließ. Dann drang er mit dem Nachschlüssel in die Wohnung ein, drehte rasch alle Wasserhähne in Küche und Bad auf, öffnete den Kühlschrank und auch das Gefrierfach.
Anschließend hetzte er wieder nach unten.
Um zwei Ecken herum, dort wusste er von einer weiteren Bushaltestelle. Er hatte Glück: Der Bus stand schon da, wollte eben anfahren, und es gelang ihm gerade noch, hineinzuschlüpfen. Mit dem gelben Bus der Berliner Verkehrsgemeinschaft fuhr er bis zur nächsten U-Bahn-Station.
Hier steckte er ein 50-Cent-Stück in den Gebührenschlitz einer öffentlichen Toilette. Aus der Innentasche seines Trenchcoats holte er eine Plastiktüte und Wattepads, um sich abzuschminken.
Behutsam tupfte er sich die aufgemalten Bartstoppeln aus dem Gesicht. Die verschmutzten Pads spülte er die Toilette hinunter.
Danach zog er den beigefarbenen Trenchcoat aus und steckte ihn gemeinsam mit dem Basecap in die Tüte.
Vor dem Spiegel schüttelte er ein, zwei Mal den Kopf und fuhr sich dann mit den Fingern durchs schulterlange Haar.
Niemandem fiel sie auf, die Frau, die kurz darauf zufrieden und selbstgefällig die öffentliche Toilette verließ.
Auch nicht den beiden Polizistinnen, die in ihrem Streifenwagen direkt an ihr vorüberfuhren.
48
Neulich
J a, bitte?«
»Spreche ich mit Frau Thora Lumina?«
»Ja. Wer ist denn dran?«
»Eine Freundin.«
»Sie möchten mir Ihren Namen nicht verraten?«
»Nein. Ich möchte, dass Sie mir zuhören.«
»Ich höre.«
»Eine Frau hat sich für heute Vormittag mit Ihnen verabredet.«
»Und?«
»Sie bringt eine weitere Frau mit. Die beiden sind Reporterinnen.«
»Reporterinnen? Für wen arbeiten sie?«
»Sie sind Enthüllungsjournalistinnen. Sie arbeiten für ein Boulevard-Magazin im Privatfernsehen.«
»Und was sollten die beiden Damen von mir wollen?«
»Sie möchten Sie dem Fernsehpublikum vorführen, Sie als Scharlatanin entlarven.«
»Warum sollten sie so etwas tun?«
»Wegen der Quoten? Weil sie es können? Keine Ahnung.«
»Wer sind Sie? Sind Sie sich sicher?«
»Ja. Sie führen versteckte Mikrofone
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