Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
bekommen, der Polizei von Ihrer Entdeckung zu erzählen.«
Du wärst überrascht, wenn ich dir sagen würde, dass sie bereits da ist , dachte Koschny schadenfroh. Allerdings hielt er es für klüger, Staude zu verschweigen, dass die Polizei bereits auf dem Gelände war, um ihm keine Möglichkeit zu geben, sich in dem Gebäude zu verschanzen. Er würde warten und den anderen so lange wie möglich in Sicherheit wiegen.
»Und wie wollen Sie das verhindern?« Koschny sprach betont laut, damit Seifert ihn gut verstehen konnte. »Indem Sie mir auch eine Kugel durch die Stirn jagen oder mich überfahren?«
»Das entscheiden andere. Ich bin nur für medizinische Probleme zuständig.«
Erneut wanderte Koschnys Blick zu der Leiche hinüber. »Und was für eine Krankheit hatte er ?«
»Ich habe ihn nicht umgebracht, falls Sie das meinen.«
»Wozu dann die Knarre?« Koschny kannte sich mit Schusswaffen nicht sonderlich gut aus, aber er konnte erkennen, dass es eine Halbautomatik war.
»Das war seine. Jetzt ist sie eine Versicherung gegen ungebetene Gäste. Und Sie können sicher sein, dass ich sie auch benutzen werde, wenn ich dazu gezwungen bin.«
»Sie behaupten also, Sie wären kein Mörder. Und was war mit der alten Frau in dem Heim? Sie ist an den Folgen Ihrer Experimente gestorben, nicht wahr?«
»Sie sagen es ja selbst, sie war alt. Und außerdem todkrank. Ihre Zeit war einfach gekommen.«
»Ist es das, was Sie sich einreden? Ist das Ihre Art von Wissenschaft?«
»Was wissen Sie schon davon?«
»Dann klären Sie mich auf. Was hat den Ausschlag gegeben, der Ruhm oder das Geld?«
»Sie spielen gerne den Klugscheißer, nicht wahr?«, fauchte Staude. »Markieren gern den Unbeugsamen.«
»Meine Mutter hat mich so erzogen.«
»Ja, und wenn es mehr Wissenschaftler wie mich gäbe, wäre sie vielleicht noch am Leben. Aber Leute wie Sie verschließen sich dem Fortschritt. Kleinkarierte Besserwisser, die in ihrer Sturheit nicht einsehen können, dass große Entwicklungen eben hin und wieder Opfer fordern. Die Forschung könnte wesentlich weiter sein, wenn ihr Schreibtischhengste euch nicht ständig als Menschenrechtler aufspielen und uns durch Gesetze die Hände binden würdet.«
»Genau das ist der Zweck dieser Gesetze. Andere Menschen vor skrupellosen Typen wie Ihnen zu schützen.«
»Und welches Gesetz schützt die Menschen vor Aids?«, konterte Staude ungehalten. »Ich versuche nur, meine Pflicht als Mediziner zu tun, indem ich versuche Millionen Erkrankte vor dem Tod zu bewahren und über sechs Milliarden Menschen die Angst vor dieser Krankheit zu nehmen. Ich finde, solche Zahlen rechtfertigen das eine oder andere Opfer.«
»Das sehe ich anders«, widersprach Koschny. »Sie können doch nicht eine Ungerechtigkeit durch eine andere ausmerzen. Manchmal liegt es eben einfach nicht in unserer Hand.«
»Doch, es liegt in unserer Hand«, gab Staude aufgebracht zurück. »Wir müssen nur bereit sein zuzugreifen. Zwanzig Jahre meines Lebens widme ich mich jetzt schon der Aids-Forschung, ohne nennenswerte Fortschritte erzielt zu haben. Erst mit Hilfe dieser Leute war es mir möglich, die entscheidenden Untersuchungen durchzuführen. Ich wäre doch verrückt, wenn ich eine solche Chance nicht genutzt hätte.«
»Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten«, bemerkte Koschny trocken, »aber Sie sind verrückt!«
Staude schien ihn nicht zu hören. »Ich frage Sie, wo wäre die moderne Medizin heute, wenn sich nicht hin und wieder Leute wie ich den Regeln widersetzen würden?« Er fuchtelte wild mit der Pistole herum. »Noch vor vierzig Jahren wurde ein Wissenschaftler, der behauptete, ein menschliches Herz verpflanzen zu können, als neuzeitlicher Frankenstein bezeichnet. Heute finden solche Operationen jeden Tag statt. Leber, Niere, Herz … fast jedes wichtige Organ kann heutzutage verpflanzt werden. Sogar Gliedmaßen von Toten wurden bereits erfolgreich transplantiert, und niemand nimmt mehr Anstoß daran. Wir betrachten es mittlerweile als normal, den menschlichen Körper auszuschlachten, weil dadurch Leben gerettet werden. Ich garantiere Ihnen, in ein paar Jahren wird man unsere Forschungsmethode als wegweisend betrachten. Letztendlich schaden wir damit niemandem. Unsere Versuchspersonen sind ohnehin moribund, also was haben sie zu verlieren? Ihre letzte Stunde hat längst geschlagen, ich kann ihnen nicht mehr helfen. Aber ich kann ihrem Tod einen Sinn geben, indem ich durch ihn andere Leben rette. Aber jemand wie
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