Stern auf Nullkurs (1979)
ist eine Kugel. Sie hat einen Durchmesser von etwa Menschengröße. Mehrere tiefe Dellen im Eis deuten darauf hin, daß sie immer wieder aufgeschlagen ist, daß sie wie ein Ball über das Eis gesprungen sein muß, ehe sie am Fuße einer meterdicken Säule zur Ruhe kam.
Sie geben sich keine Rechenschaft darüber, wieso ausgerechnet diese Kugel dem vernichtenden Inferno entgangen ist, denn jetzt scheint ihnen nichts wichtiger, als Aufschlüsse über die Natur dieses ungewöhnlichen Körpers zu erhalten. Aber bereits nach den ersten Überlegungen ist abzusehen, daß ihre geringen Mittel nicht ausreichen, eine sinnvolle Untersuchung vorzunehmen. Die Kugel ist fugenlos glatt und von einer dünnen Eisschicht überzogen.
Kalo beginnt die Reifschicht mit den Händen zu entfernen. Schon die erste Entdeckung verblüfft ihn. Das Eis läßt sich leicht verschieben und in großen Stücken ablösen. Es wird von der Oberfläche der Kugel durch einen Flüssigkeitsfilm getrennt und kann deshalb nicht haften.
„Pela, sieh nur!" flüstert er.
Sie legt mit Hand an. In kurzer Zeit haben sie eine Fläche von mehreren Quadratzentimetern freigelegt.
„Die Kugel hat immer noch eine gewisse Eigenwärme", sagt Pela, und unbewußt spricht auch sie leise.
„Stunden nach dem Absturz! Das ist unbegreiflich!" pflichtet Kalo ihr bei. Dann aber schweigt er. Unter der Eiskruste werden die ersten Formen und Strukturen sichtbar. Eine glatte, durchsichtige Wand kommt zum Vorschein, und darunter...
Wieder steigt ihm die Übelkeit in die Kehle.
Muskelstrangartige Sektionen, bewegungslos, wie in einem letzten Krampf erstarrt, tot, Sehnen, seilartig, schlaff und weißlich, hin und wieder eine kreisrunde Fläche, wie ein Saugnapf von innen gegen die Wandung geheftet.
Es ist ungeheuerlich, das ist zweifellos Leben oder war einmal Leben, vor Stunden noch, fremdes Leben.
Und dann der Schrei Dona Larins, schrill und hoch und voller Entsetzen.
Durch die glasige Wandung starren zwei Augen, grüne Iris, kreisrund, waagerechte Pupillen, schwarze Schlitze, lidlos, gebrochen, starr, tot.
Schock
WAS VERANLASST die meisten Menschen, den im Bach ertrinkenden Marienkäfer zu bedauern, während sie die Spinne im Gras voller Abscheu zertreten?
Weshalb geraten sie über die wackelnde Nase eines Hasen in helle Begeisterung und betrachten die elegant über einen Ast gleitende Schlange mit unverhohlenem Ekel.
Weshalb applaudieren sie dem Schimpansen, der sich eine Banane angelt, und schaudern beim Anblick des Kraken, der sich mit Steinen in seiner unterseeischen Höhle verbarrikadiert?
Wo bleibt die so oft gerühmte Weisheit des Menschen, wenn es um die natürlichsten Dinge der Welt geht? Was ist es, das ihn Sympathie und Abscheu ebenso bereitwillig wie gedankenlos verteilen läßt? Ist es noch ein Rest ursprünglichen Empfindens, sind es Rudimente der Urangst des Tieres vor seinen potentiellen Gegnern, oder ist es der Hochmut dessen, der sich über seine natürliche Herkunft erhoben zu haben glaubt?
Oder ist es einfach ein Fehlverhalten, weitergereicht von Generation zu Generation wie ein Aberglaube?
Linien laufen von links nach rechts über den Bildschirm, die nicht die geringste Information enthalten, parallel und schnurgerade, sinnlos. Kalo nimmt sie nicht wahr, er blickt gedankenverloren durch den Bildschirm hindurch in eine ungewisse Ferne.
Hält der Mensch sich wirklich für das Maß aller Dinge? Mißt er tatsächlich alles und jedes am Grad des Nutzens für die eigene Entwicklung? Hat er noch immer nicht eingesehen, daß er nicht die Krone der Schöpfung, sondern Teil der Natur, gesetzmäßig entstandenes Wesen ist, denselben Naturgesetzen unterworfen wie die Spinne, die Schlange und der Krake?
Nur einen Vorteil hat der Mensch. Kraft seines Verstandes hat ihn die Evolution in die Lage versetzt, diese Naturkräfte zu erkennen und zu seiner Weiterentwicklung anzuwenden.
Möge er endlich die Zusammenhänge begreifen.
Kalo fühlt selber, daß seine Gedanken boshaft und unfreundlich sind. Tut er den Menschen nicht unrecht? Hat der Prozeß des Umdenkens nicht bereits begonnen? Je weiter die Wissenschaft in die Gesetze der Natur eindringt, um so sicherer erkennt der Mensch, daß nach jeder neuen Erkenntnis hundert neue Fragen entstehen werden und hinter der Antwort abermals hundert andere Rätsel. Die Welt ist ohne Anfang und Ende, und mit ihr sind es die Gesetze, denen sie gehorcht.
Mag manchen diese Erkenntnis bedrücken, mag
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