Stern ohne Himmel
und fror, versteckte sich, weil er keine Zivilkleidung bekam, und hier, mitten unter Toten und Steinen, kommt eine Frau und bringt ihm das Ersehnte. Er beugte sich vor und hob die Hand zum Schlag. Der blonde Zopf auf Ruths Rücken leuchtete.
»Oh, Abiram, bist du das?«, rief Ruth leise.
Dann erst sah sie, dass es ein fremder Mann war.
»Hände hoch!«, herrschte er sie an und hielt ihr die ungeladene Pistole vor die Brust.
»Warum?« Sie hob die Hände nicht, sondern presste die Jacke noch enger an sich. Ihre Stimme zitterte, aber sie kroch noch näher zu ihm, bis sie die Schweißtropfen auf seiner Stirn sehen konnte. Einmal zuckte es noch in der Hand des Soldaten, dann ließ er den Knüppel, mit dem er sie erschlagen wollte, fallen.
»Hast du denn keine Angst vor mir?«, fragte er rau.
»Doch, aber Großvater sagt immer, die hilft nichts!«
»Ist ein kluger Mann, dein Großvater.«
»Ja.«
Erst jetzt sah Ruth die Uniform, und sie konnte sich nicht erklären, wie der Mann hierher gekommen war.
»Sind Sie Soldat?«
»Ich war einer.«
»Und was machen Sie hier in den Trümmern, wo keine Menschen wohnen?«
»Du läufst ja auch hier herum und ich frage dich nicht danach.«
Er schätzte mit den Blicken die Jacke ab. Sie könnte ihm genau passen, vielleicht ein bisschen eng, aber was machte das schon.
»Gib mir die Jacke!«
Jetzt begriff Ruth. Die Jacke wollte er haben, weil er von den Soldaten fortgelaufen war. Instinktiv fühlte sie die Gefahr, ließ sich den Wall hinunterrollen und lief, so rasch es auf dem steinigen Weg ging, davon. Der Soldat war schneller. Er holte sie ein, bekam sie am Zopf zu fassen und riss sie zu Boden. Eine brennende Schürfwunde zog sich über ihre Stirn.
»Meine Freunde kommen hinter mir her! Und wenn ich schreie, findet man Sie!«, rief sie verzweifelt. Die Jacke hielt sie unter ihrem Körper versteckt. Die Decke war oben auf den Steinen liegen geblieben. Es wurde immer dunkler. Die Angst begann Ruth zu würgen. Das Gesicht des Soldaten war ganz nah an dem ihren.
Er musste damit rechnen, dass jeden Moment einer dieser Freunde auftauchen würde. »Wenn du mir die Jacke nicht gibst, ist es mit mir aus. Entweder ich verhungere oder sie hängen mich als Fahnenflüchtigen auf. Verstehst du das? Aber ich will nach Hause zu meiner Frau.«
Während er sprach, zerrte er an der Jacke, bis Ruth seiner Kraft nachgeben musste.
Der Soldat, glücklich, eine Männerjacke zu haben, lachte. Er griff abermals in den Zopf und drehte ihren Kopf zu sich herum. »Was, so klein und schon einen Kerl?«
»Er ist kein Kerl. Er ist ein Judenjunge, so alt wie ich, der sich genauso verstecken muss wie Sie, wenn er nicht aufgehängt werden will!«
Der Soldat ließ ihren Zopf los.
»Ein Jude«, murmelte er verständnislos, »du hast einen Juden versteckt, du kleine Göre. So mutig bist du? Weißt du denn, was das für dich bedeuten kann?«
»Ja.«
Der Soldat war fassungslos. »Ein Jude …«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Können Sie mir denn nicht Ihre Jacke geben?«, fragte Ruth zögernd.
»Meine Jacke? Eine Uniformjacke?« Der Soldat glaubte sie nicht recht zu verstehen.
»Ja, das ist doch egal. Hauptsache, er hat es warm«, stellte sie fest.
»Das ist wohl das Verrückteste, was mir bisher vorgekommen ist, ein Jude in der Uniform der deutschen Wehrmacht.« Er lachte und schlug sich auf die Knie. »Ein Jude als Soldat verkleidet, na, wohl bekomm’s ihm.«
Er knöpfte die Jacke auf, zog sie aus und tauschte sie mit Kimmichs altem Jackett.
»So, jetzt geh ich«, sagte Ruth.
Der Soldat und sein Lachen waren ihr unheimlich.
»Halt, Mädchen, so schnell nicht. Erst organisierst du mir was zu essen oder ich verpfeif dich und deinen komischen Judensohn.«
»Das können Sie nicht. Sie sind ja selber weggelaufen.«
»Na ja«, sagte der Soldat voller Bitterkeit, »du hast ganz Recht.«
Er tat Ruth plötzlich Leid. »Können Sie ein Kellerschloss aufbrechen? Ich würde Ihnen ganz viel zu essen besorgen.«
»Ein Hängeschloss?
»Nein, ein richtiges, wie an einer Tür.«
»Ja, kann ich. Warum?«
»Weil der Judenjunge in so einem Keller eingesperrt ist und nicht herauskann.«
»Ich bin doch nicht blöd!«, sagte der Soldat. »Ich lass mich doch nicht wegen einem Juden erwischen!«
»Der sitzt aber in einer Speisekammer, die bis unter die Decke voll Wurst und Speck hängt.«
Der Soldat pfiff vor sich hin. Das war etwas anderes.
»Pass mal auf«, meinte er abwägend, »erst die Wurst,
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