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Stern ohne Himmel

Stern ohne Himmel

Titel: Stern ohne Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Ossowski
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so viel Prügel bekommen, da kommt es auf einmal mehr oder weniger nicht mehr an.«
    »Hol noch eine«, sagte Ruth. Sie wollte ihm ihre Angst nicht zeigen.
    »Und wenn sie wieder in den Dreck fällt?«
    »Dann versuchen wir es wieder.« Sie lächelte. »Die Jungen wissen ja nicht, dass ich es war, und du bist dann schon längst weg.«
    Bis es Abiram gelang, eine Wurst hinüberzubalancieren, lagen noch zwei in dem schmalen Gang zwischen Lattenverschlag und Kellerfenster. Die Kerzen brannten zu winzigen Stummeln herunter. Abiram war es nicht möglich, sich länger an der Bretterwand zu halten. Die Muskeln krampften sich von der Anstrengung immer öfter zusammen. Erschöpft fiel er schließlich auf die Kiste zurück, rutschte aus, und sein Gesicht schlug auf das Holz, gerade dort, wo er vorhin mit dem Stückchen Draht den Judenstern eingeritzt hatte. Er blieb einen Augenblick liegen. Seine Nase blutete. Er richtete sich auf.
    »Mach schnell!«, rief er zum Fenster hinauf, aber Ruth war schon verschwunden.

Der Soldat wurde ungeduldig. Wenn ihn der Hunger nicht zum Warten gezwungen hätte, wäre er längst auf und davon gewesen. Ob ihn die Kleine verpfiffen hatte? Vielleicht wäre es klüger gewesen, sie zu begleiten. Andererseits war die Geschichte mit dem Juden so ungewöhnlich, dass sie sich das Mädchen nicht ausgedacht haben konnte. Es wurde immer dunkler. Der Soldat schlich auf den gegenüberliegenden Steinhaufen. Hier war das Gelände unübersichtlicher. Im Notfall brauchte er bloß über den Krater zu springen, um sich, von den umgeknickten Eisenverstrebungen verborgen, davonzumachen.
    Endlich sah er sie im Dämmerlicht herankommen. Mit einem Satz war er von dem Wall herunter auf dem Pfad. »Was hast du so lange gemacht?«, herrschte er sie grob an. Dann sah er die Wurst. Eine schöne runde, saftige Salami. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Also hatte das Mädchen nicht gelogen. Irgendwo saß hier ein Jude. Aber das war nebensächlich. Die Wurst war es, um die alle seine Gedanken kreisten.
    »Es ist die größte«, sagte Ruth stolz.
    Der Soldat schluckte. Er nahm sie ihr aus der Hand, roch daran und schloss die Augen. Seine Zähne rissen an der Pelle und allmählich füllten sich seine Backen mit dem salzig-würzigen Fleisch.
    »Jetzt müssen wir schnell machen, es wird sonst immer dunkler«, unterbrach Ruth sein schmatzendes Kauen.
    Eine Ziviljacke und eine Salami, dachte der Soldat, ohne auf das Mädchen zu hören, das müsste für zwei Tage gut und gerne reichen. Ihm konnte nichts mehr passieren. Was sollte er sich da noch in die Gefahr begeben, einem Juden zu helfen?
    »Auf was warten Sie denn noch? Los, kommen Sie!«
    »Ich, wieso?«, grinste der Soldat. Er biss abermals in die Salami.
    »Sie haben es versprochen!«
    »Ach, versprochen«, winkte der Soldat ab. Das Fett auf seinem Kinn glänzte, »was glaubst du, was man uns schon alles versprochen hat!«
    Ruth hielt ihn mit beiden Händen zurück. »Ich hab Ihnen auch die Wurst gebracht! Dann können Sie doch jetzt nicht einfach weggehen!«
    »Warum kann ich das nicht?« Er lachte und schüttelte sie ab. »Sag deinem Judensohn einen schönen Gruß. Die Wurst wäre für einen verhungerten Landser genau das Richtige gewesen!«
    Er sprang auf den Wall, über den Krater hinter die Eisenverstrebungen.
    Ruth konnte ihn nicht mehr sehen.v

Antek hatte es nach der Probe fertig gebracht, das Alumnat zu verlassen. Er wählte den Weg über die Nebengassen, denn wenn er über den Marktplatz zum Kornhaus gelaufen wäre, hätte man ihn beobachten können. Hier, zwischen Winkeln und Höfen, kümmerte sich niemand um den Jungen. Im ersten Dämmerlicht begann in den Schuppen und Kellern ein emsiges Schaffen. Handwagen wurden bepackt, Kisten vernagelt, Säcke verstaut. Hin und wieder öffnete sich eine Tür und der große Treck nach Westen nahm wieder einen Flüchtling auf. Obwohl die Strafen für das Verlassen der Stadt immer härter wurden, ließen sich die Menschen nicht davon abbringen.
    Antek merkte von all dem wenig. Er wollte zu Ruth. Sie sollte ihm ihr merkwürdiges Verhalten erklären. Sie sollte ihm sagen, warum es nur eines hergelaufenen Juden bedurfte, um ihre Freundschaft in Frage zu stellen. Er schlich im Schatten des rückwärtigen Kornhauses entlang bis zu Kimmichs Haus. »Quiwitt-quiwitt«, klang es lang gezogen, aber nichts rührte sich. Antek sprang über den Zaun. Er klopfte an Fenster und Tür und rief schließlich nach Ruth. Niemand

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