Sternchenhimmel
Fenster und wies sie an still zu liegen.
»Sie hatten eine harte Nacht«, meinte er.
Ann nickte und starrte ihn an. Der Mann musste weit über sechzig sein, mit runzliger Haut, so braun wie gegerbtes Leder. Er hatte ein glänzendes echtes Auge und ein gesprungenes Glasauge, das sich irgendwie nicht ganz mit der Form seiner Augenhöhle vertrug. Auf dem kahlen Schädel trug er eine zarte, durchsichtige Duschhaube, unter der zwei silbrige Zöpfe hervorragten. In jeden waren grüne und rote Schrotpatronenhülsen geflochten. Ann sah, dass die Spitzen der Hülsen aufgebohrt worden waren, damit die Haare hindurchgefädelt werden konnten.
Die Zöpfe wuchsen nicht seitlich am Hinterkopf des Fremden wie normale Kleinmädchenzöpfe; vielmehr schienen sie in widersprüchlichen Winkeln seitwärts von seiner gedörrten Kopfhaut zu sprießen. Der ordentlich geflochtene Ansatz war durch die Duschhaube zu sehen, etliche Zentimeter über jedem Ohr. Es war ein schicker Grunge-Look, allerdings bezweifelte Ann, dass der Fremde dies beabsichtigt hatte.
»Sie sind der Typ, der mitten auf der Straße war«, sagte sie mit geschwollener Lippe.
»Meine Hüfte hatte sich verhakt.« Seine Stimme war tief und grollend.
»Wenigstens habe ich Sie nicht angefahren.«
»Sie haben ausgezeichnete Reflexe«, meinte er.
»Wie schlimm bin ich verletzt?«
»Keine Knochenbrüche, aber ein paar Prellungen. Ich musste Sie aus dem Sicherheitsgurt losschneiden«, erklärte der Fremde und machte eine Schnippelbewegung mit den Fingern. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld.
Als Ann sich aufsetzte, tat ihr alles weh, und ihr war schwindlig. Sie fragte sich, wie der Obdachlose sicher sein konnte, dass sie sich nichts gebrochen hatte; es sei denn, er war in der produktiven Phase seines Lebens Orthopäde gewesen. Der Gedanke, dass er sie untersucht haben könnte, während sie bewusstlos gewesen war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Er kam mit einem Becher heißem Tee zurück. »Marke Eigenbau«, sagte er. »Einheimische Kräutermischung.«
»Mir tut alles weh.«
»Verständlich.« Mit einem Arm hob der Mann sie aus dem Auto und trug sie zu einer Decke neben einem Lagerfeuer. Dort stützte er sie und half ihr, an dem Tee zu nippen. Sie sah, dass er einen verkrusteten alten Trenchcoat anhatte und schwarze knöchelhohe Turnschuhe ohne Socken trug. Außerdem hatte sie möglicherweise die schlimmsten Kopfschmerzen in der Geschichte der Menschheit.
»Ist das ein echter Rennwagen?«, fragte sie und schaute zurück zu dem Wrack, von dem die Farbe abblätterte. Die Seiten waren mit verblassenden Aufklebern zugepflastert, und die Nummer 77 war noch immer auf den Türen und auf der Kühlerhaube zu erkennen. »Cooles Teil. Wo haben Sie den her?«
»Jiffy Lube 300«, antwortete der Fremde.
»Waren Sie Rennfahrer oder so was?«
Der Fremde schien die Frage recht amüsant zu finden. Langsam ging Ann auf, dass er sehr groß war, wahrscheinlich zu groß, um in einen Rennwagen zu passen.
Er wandte sich ab und beschäftigte sich mit einer Bratpfanne, die über dem Feuer brutzelte.
»War ich die ganze Nacht hier?«, fragte sie.
»Korrekt.«
»Haben Sie keinen Krankenwagen gerufen?«
»Kein Telefon, Ann«, erwiderte er.
Sie sah, dass ihre Handtasche und ihre Reisetasche auf die rostzerfressene Kühlerhaube des Rennwagens gelegt worden waren. Offenbar hatte der Mann ihre Habseligkeiten durchstöbert, sonst hätte er ihren Namen nicht gewusst. Sie fragte sich, warum er nicht ihr Handy benutzt hatte, um Hilfe zu holen.
»Kennen Sie jemanden mit einem fahrtüchtigen Auto? Können Sie mich zu einem Arzt bringen?«
»Lassen Sie uns erst mal frühstücken. Dann überlegen wir uns was.«
»Okay, klar.« Ann merkte, dass sie einen Bärenhunger hatte. »Irgendwas riecht hier gut.«
»Krokodil«, sagte der Fremde.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Lecker, mein Leibgericht.«
»Das war’s, was ich gestern Abend von der Straße aufgesammelt habe, als Sie mich beinahe plattgefahren hätten. Noch ein ganz kleiner Bursche, kaum vierzig Zentimeter lang. Ein FedEx-Lieferwagen hat ihn erwischt, der Typ hat die Bremse nicht mal angetippt.«
»Ehrlich gesagt habe ich doch nicht so großen Hunger«, sagte Ann.
Der Mann erklärte, dass es eigentlich illegal sei, ein nordamerikanisches Krokodil zu essen, weil die Spezies bundesweit unter Naturschutz stand. »Aber es ist doch eine gottverdammte Schande, gutes Fleisch umkommen zu lassen«, fügte er hinzu. »Das können
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