Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
ist normal. Keine Mutter bleibt reglos, wenn ihr Kind stirbt. Schließlich ist es ein Teil von dir. Es ist möglich, dass du dir nicht genügend Zeit für die Trauer genommen hast. Du hast kein Grab, keinen Gedenkstein, nichts. Du kannst mit deiner Trauer nirgendwohin. Vielleicht ist es das, was dir zu schaffen macht.«
Und auch darüber hatte sie nachgedacht. Eines Abends, als Fela drüben bei seinen Leuten im Hüttendorf war, da hatte Titine eine Puppe aus Lumpenresten genäht. Sie hatte ihr ein Gesicht gemacht und ihr einen Namen gegeben: Lulu. Dann war sie im Schein des Mondlichtes hinaus in den Garten gegangen. Unter einem Orangenbaum hatte sie ein kleines Grab ausgehoben und die Puppe darin begraben. Lange hatte sie am Rande der Grube gehockt, Lulu in den Armen gewiegt und auf die Tränen gewartet. Aber es kamen keine Tränen. Stattdessen die Gewissheit, dass ihr kleines Mädchen noch am Leben war. Und dann hatte sie doch geweint. Lange, sehr lange. Sie hatte den Verlust ihrer Tochter betrauert, aber so wie jemand, der das Wichtigste in seinem Leben verloren hat. Verloren an jemand anderen, nicht aber an den Tod.
Und sie hatte sich damit abgefunden, irgendwann, nach entsetzlich quälenden Tagen, Wochen und Monaten, dass sie ihre Tochter verloren hatte. Für immer und endgültiger als an den Tod. Und dann war sie schwanger geworden. Ganz ohne Mönchspfeffer und rohe Eier. Einfach so. Aus Liebe zu Fela. Und sie hatte das Geheimnis ihrer Schwangerschaft gehütet, sogar vor Fela. Erst vor wenigen Tagen war ihm aufgefallen, dass ihr Körper sich verändert hatte.
»Bekommen wir ein Kind?«, hatte er gefragt, und Titine hatte in seinen Augen gesehen, dass er sich nichts mehr als das wünschte. Und sie war froh gewesen, mit einem Schlag leicht und unbeschwert. Sie hatte genickt, und dann hatten sie sich so sanft und ausdauernd geliebt wie lange nicht mehr. Doch Titine hatte auch bemerkt, dass Fela seither nachdenklich wirkte. So, als bedrückte ihn etwas, das mit der Schwangerschaft zu tun hatte. Titine hatte zunächst geglaubt, er habe Angst um das Ungeborene, aber mittlerweile wusste sie es besser. Und auch sie hatte weder Hermann noch Mafalda etwas von ihrer Schwangerschaft erzählt, und wenn sie daran dachte, dann überlief ein klammer Schauer ihren Rücken. Bisher hatte sie ihren Zustand unter weiten Kleidern verborgen, doch nun wollte sie nicht länger ein Geheimnis aus ihrem Glück machen. Sie erhob sich und beschloss, ins Herrenhaus zu gehen und reinen Tisch zu machen.
Sie musste sich beeilen. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, die Hügelkämme verfärbten sich glutrot. Bald würden die Männer und Frauen von der Arbeit nach Hause kommen, bald würde auch Felas leichter Schritt auf dem Kies vor dem Haus knirschen. Sie wollte es hinter sich haben, wenn er nach Hause kam.
Langsam und irgendwie feierlich gestimmt, schritt Titine auf das Herrenhaus zu. Sie hatte die rechte Hand auf ihren Bauch gelegt und stellte sich vor, sie ginge Hand in Hand mit ihrem Kind.
Langsam betrat sie das Haus, wurde von Imelda in den Salon geschickt und traf dort Mafalda und Hermann tief ins Gespräch versunken.
»Störe ich?«, fragte sie.
»Aber nein.« Hermann erhob sich, holte ein Glas von der Anrichte und schenkte Titine Guarapo ein.
»Worüber redet ihr so angeregt?«, wollte sie wissen.
Mafalda und Hermann warfen sich einen kurzen Blick zu. »Es ist noch nicht spruchreif. Aber wir denken darüber nach, wie wir den Ingenio trotz des miserablen Zuckermarktes gut über Wasser halten können.«
Titine nickte. Normalerweise hätte es sie sehr interessiert, was Mafalda und Hermann da beredeten, aber heute war sie so ganz von ihren eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, dass sie nur einen kurzen Blick auf die engbeschriebenen Blätter warf, die auf dem Tisch lagen. Sie trank einen Schluck vom Zuckerrohrsaft und räusperte sich. »Ich muss euch etwas sagen«, begann sie.
»Ja?« Hermann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schlug die langen Beine übereinander.
Mafalda verschränkte die Hände im Schoß und lächelte freundlich.
»Ich bekomme ein Kind.«
Der Satz hing im Raum wie ein Machetenhieb, wischte Mafaldas Lächeln weg, ließ Hermanns Lässigkeit bemüht erscheinen. Mafalda wechselte einen Blick mit Hermann, in dem keine Freude zu sehen war. Eine kleine Weile herrschte Schweigen, das Titine bedrohlich vorkam. Sie legte beide Hände auf ihren Bauch, als müsste sie das Kind vor Hermann und Mafalda
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