Sterne der Karibik: Roman (German Edition)
auf und machte einem harten, rissigen Staubweg Platz, an dessen Rändern Abfälle verwesten. Es roch nach gegorenen Bananen, nach überreifen Melonen und nach billigem Rum. Die Häuser hatten keine Balkone oder Dachgärten mehr, es waren Katen, oft nur aus einem Raum bestehend, mit offenen Türen, damit der Wind vom Meer die stickige Luft ein wenig verwirbelte. Alte, zahnlose Männer saßen auf kaputten Bänken und Stühlen vor ihren Behausungen und spielten Schach oder Domino. Dicke, schwarze und dunkelhäutige Frauen standen an den Ecken, die stämmigen Arme unter gewaltigen Brüsten verschränkt, und rauchten ungeniert. Dreckige Kinder lärmten und warfen Steine nach einem Hund, der nur noch drei Beine hatte. Überall vor den baufälligen Kirchen hockten Bettler und streckten aggressiv ihre knotigen, verkrümmten Hände vor. Mafalda bemühte sich, das Elend nicht zu sehen, doch sie konnte es riechen, konnte es auf ihrer Haut wie einen klebrigen Film spüren.
Vor einem Haus stand ein junges Mischlingsmädchen und frisierte einer älteren Schwarzen, die auf einem Stuhl vor ihr saß, das Haar. Mit einer einfachen Bürste fuhr sie der Älteren Strich für Strich durch die graue Mähne. Sie summte dabei ein Lied, und die Schwarze hielt den Kopf nach hinten gebeugt und schloss vor Behagen die Augen. Mafalda blieb stehen und beobachtete die Szenerie von weitem. Das Mischlingsmädchen war schön. So schön und ungewöhnlich, dass es in diesem Schmutz und Dreck wie eine seltene Blume blühte. Ihr schmaler Leib wirkte durch einen groben Kittel noch graziler, der schlanke Hals gab ihr etwas Herrschaftliches, und das dunkle Haar glänzte in der Sonne wie gelackt.
Ihr leiser Gesang drang durch das Fluchen der betrunkenen Männer, durch das Kreischen der Kinder und die obszönen Worte der Frauen. Trotz des Elends ringsum wirkte diese Szene so friedvoll und heiter, dass Mafalda einige Zeit brauchte, um weiterzugehen. Als sie kurz hinter dem Mädchen stand, räusperte sie sich. Die Schöne fuhr herum, die Bürste in der Hand und sah Mafalda fragend an.
Mafalda blieb die Luft weg. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie ein solches Gesicht gesehen. Ihre Haut war hellbraun, aber ihre Augen strahlten im reinsten Blau, das Mafalda je gesehen hatte. Sie musste nach Luft schnappen, presste eine Hand auf ihr wild schlagendes Herz.
»Was kann ich für Sie tun, Doña?«, fragte das Mädchen.
Mafalda räusperte sich, trotzdem klang ihre Stimme seltsam belegt, als sie fragte: »Bist du Rafaela?«
Das Mädchen nickte.
»Ich möchte mit der Frau sprechen, bei der du aufgewachsen bist.«
»Mit Anita? Hier ist sie.« Das junge Mädchen lächelte und zeigte dabei gesunde, starke, blendende Zähne, dass Mafalda nur so staunen konnte. Sie war selbst eine schöne Frau, aber die Schönheit des Mädchens war so anders, fast schon überirdisch, dass ihr jedes Mal die Luft wegblieb, wenn sie sie länger anschaute.
Die ältere Frau hatte ihren Namen gehört, wandte sich jetzt mühsam und nicht ohne zu stöhnen in ihrem Stuhl um. Als sie Mafalda sah, erschrak sie. Ihre Augen wurden ganz starr, die Nasenflügel weiteten sich, ihre Lippen begannen zu beben. »Rafaela, geh ins Haus, hörst du?«
Das Mädchen nickte und verschwand.
Mafalda kam näher, blieb vor dem Stuhl der Frau stehen. Die zeigte auf eine kleine Bank. »Setzen Sie sich.«
»Danke.« Mafalda nahm Platz, ließ ihre Blicke über die wunderschönen Blumen schweifen, die davor wuchsen.
»Rafaela. Sie hat ein Händchen für so etwas.«
Mafalda nickte lächelnd.
Dann verschränkte die schwarze Anita ihre Hände im Schoß, schüttelte ihr Haar und sagte leise: »Vor diesem Tag zittere ich seit mehr als zwölf Jahren.«
Mafalda hob die rechte Hand. »Was soll ich sagen? Sie wussten, dass ich eines Tages kommen würde, um Rafaela zu holen.«
Anita lächelte schief, zeigte dabei schadhafte Zähne. »Und doch kann ich nicht glauben, dass Sie jetzt gekommen sind, um meinen Liebling zu holen. Sie ist noch nicht mal dreizehn.«
Mafalda seufzte. »Ich weiß. Und ich täte es auch nicht, wenn es nicht wichtig wäre. Aber Sie, Anita, wissen selbst, dass Rafaela zu uns gehört. Sie ist die Tochter einer Weißen, einer Deutschen. Sie muss allmählich das Leben führen, das ihr zusteht.«
Anita seufzte, dann fragte sie: »Hat ihre richtige Mutter nie nach ihr gefragt?«
Mafalda wischte die Frage mit einer Handbewegung beiseite. »Ich möchte sie gleich mitnehmen. Sie kann ein paar Sachen
Weitere Kostenlose Bücher