Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
zuvor ins Gedächtnis zurückgerufen, daß sie als Volk heute nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Mochte der Krallenturm auch noch so wohnlich und angenehm sein, er konnte niemals das ersetzen, was sie verloren hatten. Und dann hatte Sternenströmer ihnen aufgezeigt, wie sie vielleicht ihre frühere Größe zurückzuerlangen vermöchten. Die Prophezeiung des Zerstörers sollte und durfte in ihnen auch Hoffnung erwecken.
Mit gesenktem Haupt stand der Zauberer da, hielt die Arme immer noch vor der Brust verschränkt und lauschte der Stille. Rivkah starrte ihn an, und Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie hatte ihn nie mehr geliebt als in diesem Moment.
Nach einer Weile atmete Sternenströmer tief ein und hob den Kopf. Diese kleine Bewegung brach den Bann, der über der Versammlung lag, und schon fingen die Ikarier an zu tuscheln. Der Zauberer ließ die Hände sinken und schritt schweigend zu seiner Bank, um zwischen Goldfeder und Abendlied Platz zu nehmen. Er lächelte beiden zu und faltete seine Hände im Schoß. Wie sehr wünschte sich Rivkah, daß er sie jetzt berührt hätte.
Nun erhob sich Rabenhorst und trat in die Mitte. Den weiten Stoff seiner Toga hielt er über dem Arm, und seine Halskette leuchtete hell von den Bronzespiegeln der Deckenkuppel. »Meine lieben Ikarier«, begann er mit kräftiger, klarer Stimme, »Ihr alle habt von den Ereignissen der letzten zehn Tage vernommen. Deshalb will ich nicht alles noch einmal aufzuzählen. Ihr wißt nun, daß die Zeit der Prophezeiung gekommen ist und ihre Wächter über die Erde wandeln. Und so will ich auch nicht Eure Geduld strapazieren und auf die Gerüchte eingehen, die im Krallenturm im Umlauf sind. Ihr habt gehört, daß die Baumfreundin gefunden ist und der Erdbaum singt. Euch ist auch bekannt, daß wir Gorgrael gegenüberstehen und dieser der Sohn von Sternenströmer und der Awarin Ameld vom Weitlaufklan ist.« Sein Bruder senkte schuldbewußt den Kopf, aber Rabenhorst ging nicht weiter auf diese Angelegenheit ein. »Ihr habt des weiteren erfahren, daß der Sternenmann als Axtherr für den Seneschall tätig ist. Daß dieser Mann Axis heißt und der Sohn von Sternenströmer und Rivkah ist, der ehemaligen Herzogin von Ichtar. Heute müssen wir darüber entscheiden, ob wir nach Gorken ziehen und diesem Axis mit unseren Kräften beistehen. Und wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, ob wir den Axtherrn als den wahren Sternenmann anerkennen und in unsere Reihen aufnehmen.«
Pfiffe und Zischen antworteten ihm von den Rängen. Nachdem Sternenströmer ihnen so nachdrücklich ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, was sie alles durch die Axt verloren hatten – wie konnte Rabenhorst dann jetzt von ihnen verlangen, dem Axtherrn zu helfen?
Aber der Krallenfürst ließ sich von diesen Unmutsäußerungen nicht verunsichern. »Doch als erstes wollen wir erfahren, was es Neues von der Feste Gorken gibt. Geschwaderführer Weitsicht, Eure Fernaufklärer dürften mittlerweile zurückgekehrt sein. Welche Nachrichten bringen sie von ihrem Erkundungsflug mit?«
Der Offizier erhob sich von seinem Platz in der obersten Reihe. Er bot einen unheimlichen Anblick. Seine düstere Ausstrahlung wurde von den schwarz gefärbten Flügeln noch unterstrichen.
»Fürst, sie haben wenig Erfreuliches zu vermelden. Die Feste Gorken wird von einer Armee von Skrälingen belagert, die mindestens zwanzigmal so stark ist wie die, die uns am Heiligen Hain überfiel. Gorgraels Truppen haben die Stadt Gorken bereits erobert und verwüstet. Alle Bodenläufer, die die Kämpfe überlebten, konnten sich in die Burg flüchten. Um die Stadt muß ein grimmiger Kampf getobt haben. Wir hatten beim Erdbaum einige Hundert Tote zu beklagen, aber die Achariten verloren Tausende. In den Straßen türmen sich immer noch die Leichen, und die Skrälinge haben sich so vollgefressen, daß ihr Appetit für eine Weile gestillt sein dürfte. Vier Skräbolde führen nun das Heer an, und in dem grauen Nebel, der die Festung umgibt, stecken Zehntausende von Gorgraels Kreaturen. Meine lieben Ikarier, mir fehlen die Worte, um das Grauen zu beschreiben, das die Bodenläufer befallen muß, wenn sie über die Zinnen blicken.«
»Wird die Burg dem Ansturm standhalten?« rief jemand.
Weitsicht dachte nach. »Nein, ganz sicher nicht. Am Ende werden die Kälte und die zur Neige gehenden Vorräte die Verteidiger bezwingen. Ich fürchte, die Festung hat zu viele Menschen in ihren Mauern aufgenommen. Vielleicht
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