Sternenfaust - 009 - Verschollen in der Hohlwelt
hinauf.
Endlich – dort hinten in der kleinen Senke erschien ein müde blinzelnder kleiner Kopf und lugte über den Grasrand. Wrugal pfiff erneut so laut er konnte. Der faltige, unbefederte Kopf schob sich etwas höher und blickte seinen Herrn jetzt mit unverhohlener Neugierde an.
»Ja, los! Nun mach schon …«, rief der Telegrafenmeister und klopfte dabei auf seine Schenkel.
Der Kopf, der von einem breiten, blauen Schnabel und zwei kreisrunden, großen Augen dominiert wurde, fuhr ein weiteres Stück in die Höhe. Dem teleskopartigen, langen Hals folgte ein robuster, flügelloser mit dichtem Flaum bewachsener Körper, der von zwei kräftigen Beinen getragen wurde. Als der Ruschtu sich endlich aufgerichtet hatte, überragte er Wrugal um einiges. Nun wurden auch die dünnen, aber zähen Vorderbeine sichtbar, die im Gegensatz zu dem kräftigen hinteren Beinpaar nicht in vierzehigen Krallen endeten, sondern jeweils nur drei fingerartige, mehrfach gegliederte Zehen aufwiesen, mit denen sich der Ruschtu in die feinsten Felsspalten und Ritzen klammern konnte, weshalb diese Tiere seit Urzeiten bei den Randständigen zu den beliebtesten Reittieren zählten, da sie auch im Gebirge von größtem Nutzen waren.
Geschickt schwang sich Wrugal auf den Rücken des Tieres, das keinen Sattel benötigte, da eine anatomische Besonderheit darin bestand, dass oben auf dem hinteren Teil des Rückens eine regelrechte Sitzkuhle ausgeformt war, vor der ein länglicher, mit empfindlichen Nerven versehener Knorpelzapfen direkt aus der Wirbelsäule herausragte, den der Reiter in die Hand nahm und mit dem man – nach einer gemeinsamen Lernphase – das Tier steuern konnte. Die meisten – so auch Wrugal – lehnten sich in dem bequemen, natürlichen Sessel so weit wie möglich zurück, umfassten den »Steuerknüppel« mit einer Hand und platzierten die Beine so nach vorne, dass sie leicht angewinkelt auf den Schultern über den Vorderbeinen Halt fanden.
Sie hatten einen weiten und hoffentlich ergebnislosen Weg vor sich, auf dem sie möglicherweise die ganze Telegrafenleitung bis dorthin entlangreiten mussten, wo sie ins Meer verschwand. Gut ein bis anderthalb Tarus würde das Unternehmen dauern. Ohne allerdings die in dieser Zeiteinheit sprachlich implizierte Ruheperiode wahrnehmen zu können.
Glücklicherweise waren Ruschtus robuste und genügsame Tiere, die auch in den fernen Salzwüsten von Grindal eingesetzt wurden. Sicherheitshalber hatte Wrugal den Ruschtu zusätzlich mit einer Reihe von Gepäckstücken beladen. Man wusste ja nie. Ein Bündel Kabel, eine mobile Kleinstation, die sich unterwegs an die Leitung ankoppeln ließ, Werkzeug und einige Vorräte für ihn und das Tier, falls sie länger in den unwirtlichen Regionen des Hochgebirges bleiben mussten, das sich am Horizont vor seinen Augen abzeichnete.
Die schmale Hügelkette hinter seiner Station, die seine Heimatbucht umschloss, hatte er rasch hinter sich gelassen und erwartungsgemäß keinerlei Beschädigung der Leitung entdecken können. Bevor es nun an den Aufstieg ins Gebirge ging, galoppierten sie in raschem Tempo durch eine sanft geschwungene Hochebene. Die Leitung und die Masten waren, so weit das Auge reichte, in Ordnung.
Viel später, sie hatten die Hochwälder bereits hinter sich gelassen, zeigte der Ruschtu noch keinerlei Anzeichen von Ermüdung, von Erschöpfung ganz zu schweigen. Ganz anders dagegen fühlte sich Wrugal. Auf ihn hatte das eintönige Geschaukel eine einschläfernde Wirkung.
Aber er durfte nicht schlafen. Es war nicht nur gefährlich, sondern er konnte auch die Stelle übersehen, wo das Kabel gerissen war. Sie waren jetzt in den Bergen und kamen wegen der vielen steilen Auf- und Abstiege nur noch langsam voran. Gerade bei Steilhängen musste man sich schon gut festhalten, um nicht aus dem natürlichen Sattel zu gleiten und in einer der tiefen Schluchten zu Tode zu stürzen.
Jetzt wurde seine Aufgabe, die er immer noch unablässig verfluchte, zu einer echten Herausforderung. Einerseits musste Wrugal den gerade vor ihnen liegenden Pfad vor Augen haben, der sich nicht selten in scheinbar glatten und steilen Felswänden verlor. Andererseits blickte er in raschem Wechsel nach oben, um die Leitung zu sehen. Obwohl das Auge Gottes allen Lebewesen unablässig sein Licht und seine Wärme schenkte, wurde es, je höher sie kamen, immer kälter.
Er hatte noch ein oder zwei Decken mitnehmen sollen, dachte Wrugal, während er sich Armen und Oberkörper rieb
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