Sternenfaust - 115 - Der Feind im Verborgenen
»Sie bleiben bitte da unten, ich sehe mich nur kurz um!«, rief er zu Polina herab. Die hockte sich mit in den Händen geborgenem Kopf, einem Stein gleich, auf die Erde. Gutes Mädchen!
Jason kam in die Höhe und versuchte sich zu orientieren. Hinter ihm lag der Hügel, das wusste er noch. Geradeaus war einmal die kleine Gasse zwischen den Township-Hütten gewesen, aber die Druckwelle der Explosion hatte die Begrenzungen zu den kleinen Grundstücken weggerissen, sodass jetzt Trümmerteile und Wellblechstücke sowie Kisten und Tonnen eine Fläche bildeten, die keinen Weg mehr erkennen ließen.
Wie verfaulte Zähne ragten die Überreste der Baracken in den vom Staub schmutzigen Nachmittagshimmel. Hier und da schlugen Flammen in die Höhe.
Die Brandherde breiteten sich rasant aus, fanden immer wieder neue Nahrung. Holz, Kunststoff, Pappe. Die Baustoffe, aus denen die Armensiedlung einst im 21. Jahrhundert errichtet worden war, vergingen in Sekunden in den lodernden Flammen.
Wenn wir hier rauskommen wollen, dann müssen wir uns beeilen!
Jason McVellor wollte sich gerade wieder zu Polina Stokke herunterbeugen, als ein niedergehendes Trümmerteil ihn an der Schulter traf. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden. Die brennende Holzlatte hatte ihm das Hemd versenkt.
Geistesgegenwärtig riss er sich das Kleidungsstück vom Leib, warf es zu Boden und trat den schwelenden Stoff in den Sand.
Polina hatte unterdessen ihre kauernde Schutzhaltung aufgegeben und war neben dem keuchenden Jason in die Hocke gegangen.
»Wie sieht es aus? Wo geht’s lang?«
Jason hielt sich die verbrannte Schulter und sog mit zusammengebissenen Zähnen scharf die Luft ein. »Weiß ich auch nicht so genau. Ich schlage vor, wir versuchen erst einmal wieder, auf den Hügel zu klettern, um eine bessere Sicht zu bekommen.«
Polina nickte. »Guter Vorschlag!« Ihr anfänglicher Schreck hatte sich nun in pragmatischen Aktionismus verwandelt. »Können Sie laufen?«
McVellor nickte. »Es geht schon. Was ist mit Ihnen?«
»Mir fehlt nichts.«
»Dann los!«
Gemeinsam schlichen sie geduckt aus der ehemaligen Gasse heraus. Die Sicht betrug in dem Chaos, das sie umgab, gerade einmal zehn Meter. Als sie am Fuße des Hügels angelangt waren, sahen sie, dass eine erneute Besteigung wohl nicht mehr möglich war.
Ein riesiges Betonteil, wohlmöglich vom Ort der Explosion weggesprengt, war auf die Erhebung niedergegangen. Aus den einzelnen grauen Brocken, die wohl früher eine Hausfassade oder so etwas gebildet hatten, ragten einst in das Baumaterial eingegossene Stahlmatten wie Kaktusstacheln in die Höhe. Unmöglich, sich darüber hinweg zu setzten, ohne Verletzungen davonzutragen. Nicht mal für einen Parcours-Läufer , durchfuhr es McVellor.
Zwischen den Betonbrocken ragten vereinzelt menschliche Gliedmaße hervor. Jason sah eine Hälfte der rundlichen Frau, die ihn vorhin so misstrauisch beäugt hatte, unter einem großen Block liegen. Von der Hüfte abwärts war sie unter dem massiven Plattenbruchstück begraben. Ihre gebrochenen Augen schienen Jason anklagend anzustarren.
McVellor wandte sich ab. Neben sich erbrach sich Polina in den Sand. Sie hatte den Anblick der zerfetzten Leiber nicht ertragen können.
Auch die Schreie, die um sie herum erklangen, bekamen jetzt Gesichter. Abgerissene Gestalten in zerfledderten Gewändern torkelten blutüberströmt umher und brüllten sich die Seele aus dem Leib.
Oh mein Gott, sie bluten am ganzen Körper! Sind das … Glassplitter?
Erst jetzt sah Jason auch die glänzenden Scherben, die überall im Sand steckten.
»Sie müssen förmlich vom Himmel gefallen sein …« Polina wischte sich mit dem Unterarm über den Mund und deutete ebenfalls auf das herumliegende Glas. »Ein Scherbenregen …«
»Wir können von Glück sagen, relativ geschützt in dem Durchgang gewesen zu sein. Nicht auszudenken, was uns zugestoßen wäre, wenn …«
Ja, wenn sie auf dem Hügel sitzen geblieben wären. Dann würden sie jetzt zusammen mit den anderen zerschmettert unter Hunderten von Betonbrocken liegen.
Der Gedanke war zu viel für Polina. Erneut begann sie zu würgen, aber ihr Magen war leer. Der bittere Geschmack von Galle füllte ihren Mund, und sie zwang sich, tief durchzuatmen, um den Brechreiz unter Kontrolle zu bekommen.
»Wir müssen versuchen, an einen der Zäune zu kommen, die das Gelände begrenzen«, schlug McVellor vor. »Da suchen wir uns dann irgendetwas, mit dem wir ihn zerschneiden können. Oder wir
Weitere Kostenlose Bücher