Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman (German Edition)
schien? Er wusste es nicht. Nur eines wusste er: Wenn er sich nicht bald würde hinlegen können, würde er das Bewusstsein verlieren.
Niemand durfte ihn sehen, wenn er ihr Zuhause betrat, und so wandte er sich in Richtung des Wartungsraums in der Nähe ihrer Unterkunft. Er sah sich aufmerksam in dem Korridor um, hielt Ausschau nach Überwachungskameras, aber ebenso wie auf der Ebene seines Quartiers, war auch hier keine Kamera auf den Wartungsraum ausgerichtet. Dennoch unterschied dieser sich von jenem in der Nähe seiner Unterkunft, so dass er nicht sicher war, ob die Konstruktion des Raums dieselbe sein würde. Im Inneren fand er ein Spachtelmesser in einem schmutzigen Eimer und hebelte damit die Rückwand auf. Dann streckte er seinen Kopf in den schmalen Durchgang. Es sah ganz genauso aus wie der schmale Spalt hinter dem Apartment seines Vaters. Seth quetschte sich hinein, quälte sich, der Schweiß lief ihm in Rinnsalen das Gesicht hinab. Er schlängelte sich weiter, zählte die Leitungen, bis er sich nahezu sicher war, Waverlys Unterkunft gefunden zu haben. Dann hebelte er die Rückwand auf, fiel hinein in einen Schrank, der nach Sandelholz roch, erkämpfte sich seinen Weg durch die auf Bügeln hängende Kleidung und glitt schließlich hinein in einen dunklen Raum.
Er lauschte. Niemand schien zu Hause zu sein. Waverly hatte ihn nie in ihr Quartier eingeladen, nicht seit jener Geburtstagsparty, als sie fünf Jahre alt geworden waren. Was, wenn er in den Wohnräumen einer anderen Person gelandet war?
»Waverly?«, fragte er zaghaft. Er klang sogar verletzt, seine Stimme faserig und schwach, erschöpft vor Schmerz. Als niemand antwortete, setzte er nach, lauter diesmal: »Waverly?«
Er durchquerte den Flur, ging zu dem zweiten Schlafraum und schaltete das Licht ein. Eine große Raggedy-Ann-Puppe saß auf einem Stuhl in der Ecke, und über dem Doppelbett hing das Bild einer Frau, die auf einer Blumenwiese stand, einen Sonnenschirm über ihrem verschatteten Gesicht. Ein schwarzes Sweatshirt hing ordentlich über einer Stuhllehne, und Seth griff danach und roch daran. Waverly. Das hier war definitiv ihr Quartier.
Er schaltete das Licht wieder aus, stand in der Dunkelheit und versuchte zu Atem zu kommen. Sein Herz schlug gegen seine gebrochenen Rippen, und es fühlte sich an, als würde es ihm noch mehr Knochen brechen wollen. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als sich hinzulegen und sich auszuruhen.
Aber nein. Das konnte er nicht. Nicht bevor er den Schnitt genäht hatte.
Er wünschte sich, es gäbe einen anderen Weg, aber dann humpelte er ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und sah in den Spiegel. Der klaffende Spalt gähnte in seiner Kopfhaut wie ein offener Mund, der in seinem Haar nistete. Die Seitenränder waren dick und weich wie Lippen. Klammerpflaster würden nicht ausreichen. Wenn er die Wunde nicht schloss, würde sie sich definitiv entzünden.
Er wusste, dass er auf Waverly hätte warten sollen, um sie es tun zu lassen. Aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, irgendeine andere Person auch nur in die Nähe der grausamen Schnittwunde kommen zu lassen. Nicht einmal sie.
Seth humpelte ins Wohnzimmer zu Waverlys Nähtisch, und dieses eine Mal erlaubte er sich zu weinen. Er wählte einen schwarzen Faden, der stark genug aussah, und die dünnste Nadel, die er finden konnte.
»Vier Stiche, das ist gar nichts«, sagte er zu sich selbst mit zitternder Stimme. »Eins, zwei, drei, vier, fertig.« Unter dem Waschbecken im Badezimmer fand er eine antiseptische Lösung, Wattebäusche und eine Mullbinde, die er über der Wunde würde verknoten können.
Er richtete sich wieder auf, studierte sein Spiegelbild und versuchte den Jungen, den er dort sah, einzuschätzen: Bist du stark genug? Schaffst du das? Das Blut war in seinen Stirnfalten geronnen, und ebenso in den Linien um seinen Mund. So würde er vermutlich als alter Mann aussehen, dachte er und erstarrte. Vielleicht war er bereits ein alter Mann geworden. Vielleicht hatte all dies ihn alt gemacht.
Er schüttelte den Kopf. »Werd jetzt bloß nicht wahnsinnig, Ardvale.«
Zunächst schnitt er mit einer Schere das Haar an den Wundrändern ab, so nah an der Haut wie möglich. Er würde eine kahle Stelle zurückbehalten, aber das war nicht so wichtig. Dann betupfte er den Schnitt mit der antiseptischen Lösung. Der Schmerz brannte sich durch seinen Körper bis hinein in seine Seele, und er wurde fast ohnmächtig. Er wünschte, es gäbe eine
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