Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman (German Edition)
hatte es akzeptiert. Aber nun war er zu ihrem Feind geworden.
Ich wusste, dass das eines Tages geschehen würde, schalt sie sich selbst. Sie mochte den Schmerz nicht, den diese Erkenntnis bei ihr auslöste, und wünschte sich die Zeit herbei, in der sie den Verlust ihres alten Lebens nicht mehr betrauern und sich keine Sorgen mehr um die Zukunft würde machen müssen. Irgendwann, so dachte sie, würde sie abgehärtet sein und den Schmerz nicht mehr spüren. Sie fühlte, dass Teile von ihr zu zerbrechen drohten wie die Fasern eines Palmwedels, die Stück für Stück rissen. Was würde passieren, wenn sie diesem Drang gänzlich nachgab?
»Dann werde ich verrückt«, flüsterte sie und öffnete die Augen.
Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. Hatte sie geschlafen? Jemand hatte das Licht ausgeschaltet. Jetzt lag ihre Zelle im dämmrigen Halbdunkel und wurde nur von einer kleinen Glühbirne erleuchtet, die über ihrem Metallwaschbecken hing. Das einzige Geräusch war das Zischen ihrer Sauerstoffflasche.
»Nein, wirst du nicht«, erklang eine Stimme, und sie wandte sich Seth zu.
Er lag auf seiner Pritsche und sah sie durch das matte Licht hindurch an. Sein Atem ging stockend und schien seinen Bauch auszuhöhlen. Er lächelte schwach.
»Wir haben zu viel durchgemacht«, fuhr sie trotz der Schmerzen in ihrer Kehle fort, »und irgendwann werden wir daran zerbrechen.«
»Und dann?«
Sie schüttelte den Kopf, fuhr aber sogleich wieder zusammen, als der Schmerz in ihrer Kehle auf ihre Muskeln und Knochen überging. Instinktiv fuhr ihre Hand zu ihrem Hals. Wäre jemand in der Nähe gewesen, eine Wache oder ein Sanitäter etwa, hätte sie um ein Schmerzmittel gebeten, doch es war niemand da. »Dann«, flüsterte sie, »wird es vielleicht ein Segen sein, verrückt zu werden.«
»Vielleicht«, entgegnete er achselzuckend, »aber das wirst du nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du inzwischen schon längst verrückt geworden wärst.«
Sie schloss die Augen. Vielleicht hatte er recht. Aber manchmal wünschte sie sich, dass sie einfach aufgeben und all die Dinge vergessen könnte, für die sie sich zu kämpfen berufen fühlte. Sollte sich doch jemand anders darum kümmern.
»Waverly«, flüsterte Seth.
Sie drehte sich um, um ihn anzusehen.
»Im Wacholderhain in der Nadelbaum-Sektion ist ein Sack vergraben. Die Stelle ist mit einem Stechpalmenzweig mit vielen roten Beeren markiert. Man erkennt ihn schnell, wenn man danach sucht.«
Sie runzelte die Stirn. »Wovon redest du da?«
»Wenn etwas Schlimmes passiert, wirst du brauchen, was in dem Sack ist.«
»Was ist denn in dem Sack?«
Er schüttelte den Kopf. Weil er es nicht sagen wollte, wusste sie, worum es ging.
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte sie leise.
Er zog eine Augenbraue hoch, und sie kam sich sofort töricht vor, etwas so Naives, Kindisches gesagt zu haben.
In diesem Augenblick flammte das Licht im Gang auf, und Waverly hörte, dass sich Schritte näherten. Sie war überrascht, als plötzlich Tobin Ames vor ihrer Zelle stand. Er schwankte leicht und wirkte erschöpft. Dann hielt er fragend eine Spritze hoch. »Hätte die Lady gern noch etwas Entzündungshemmer?«
»Ja«, antwortete sie.
Er zog einen Schlüssel von einem Haken an seinem Gürtel und schloss ihre Zelle auf. Als er die Schwelle überschritt, ging auch hier das Licht flackernd an, und Waverly musste wegen der plötzlichen Helligkeit blinzeln. Tobin rieb ihre Schulter mit Alkohol ein und stach die Nadel tief in den Muskel.
»Das kannst du gut«, flüsterte sie.
Er reagierte nicht auf das Kompliment und gab ihr stattdessen einige Pillen und einen Becher Wasser zum Hinunterspülen. »Gegen die Schmerzen«, erklärte er.
Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Wie ist es mit dem kleinen Philip gelaufen?«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Blut da war«, sagte Tobin tonlos. »Aber jetzt ist in seinem Kopf wieder ausreichend Platz für sein Gehirn.«
»Wird er wieder gesund?«, fragte Seth von der anderen Seite des Gangs.
Tobin schüttelte den Kopf. »Victoria Hand meint, dass er vielleicht überleben, aber sicher nie wieder der Alte sein wird.«
Waverlys Kehle entrang sich ein Schluchzen, und einmal mehr an diesem Tag rannen ihr Tränen übers Gesicht.
»Hey.« Sie spürte einen Daumen an ihrem Kinn und sah Tobin an. »Weine später, ja? Traurig zu sein ist im Moment nicht gut für dich.«
Sie nickte und atmete tief durch ihre geschundene Kehle ein.
Tobin
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