Sternenkinder
die Letzte Beobachterin bekehrt?«
»Wie tröstlich, wenn es ihm gelungen wäre«, sagte Nilis ein bisschen wehmütig. »Aber ich weiß zu viel! Ich interessiere mich schon lange für die Religionswissenschaft. Nur dadurch war es mir überhaupt möglich, mir diesen Auftrag zu verschaffen – und ich kann nur auf intellektuelle Weise reagieren.
Das heißt nicht, dass dieser neue Glaube nicht seine positiven Aspekte hätte. Denkt an die religiösen Überzeugungen der ›Freunde‹. Eine ›Freundin‹ betet ihre Nachfahren an, die sie an Macht und Ruhm übertreffen werden, wie sie glaubt. Das ist nicht unbedingt eine irrationale Überzeugung, und sie lenkt auf uneigennützige Weise das Verhalten, wie es jede halbwegs akzeptable Religion tun sollte. Die alte Sage von Michael Poole ist ebenfalls integriert worden. Wie einige frühere Messiasse soll Poole sein Leben für die Zukunft der Menschheit geopfert haben. Dieses Beispiel verdient natürlich ewige Bewunderung. Queros Glaube ist primitiv und ziemlich ungeformt, aber er hat ein gewisses moralisches Gewicht. Und aus akademischer Sicht ist er wegen seines neuartigen szenischen Hintergrunds interessant…«
Die meisten menschlichen Religionen, sagte Nilis, seien auf der Erde entstanden. Auf dem Weg zu den Sternen hätten sie sich verändert, angepasst, geteilt und wären miteinander verschmolzen, hätten aber im Allgemeinen dieselben Kernelemente behalten.
»Eine auf der Erde geborene Religion wird über Archetypen verfügen, die aus dem planetaren Leben abgeleitet sind – wo die Sonne auf- und untergehen muss, wo Jahreszeiten kommen und gehen, wo Lebewesen sterben, aber erneuert werden, all dies ohne das Zutun der Menschen, aber abhängig von den Zyklen der Welt. Daher findet man die Anbetung der Sonne und des Wassers, oftmals sublimiert in Blut; man findet eine Faszination für die Figuren von Mutter und Kind und für das Samenkorn, das, einmal in den Boden gesetzt, dem Winter trotzt und zu neuem Leben erblüht. In vielen Religionen gibt es Messiasse, die den Tod besiegen, die sterben, aber wiedergeboren werden: die höchste Sublimierung des Samenkorns.
Hier haben wir jedoch eine Religion, die ganz spontan in einem Raumfahrervolk entstanden ist. Da braucht man neue Archetypen. Entropie zum Beispiel: Um in einer künstlichen Biosphäre zu überleben, muss man fortwährend gegen den Verfall arbeiten. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass die Welt sich selbst repariert; hier gibt es keine jahreszeitlichen Zyklen, die alles erneuern.
Und dann ist da die Kontingenz. Auf der Erde weiß man, was Überlichtvorherwissen ist – ein elementares strategisches Werkzeug –, aber es hat keine Auswirkungen auf die Menschen, weshalb die Ankunft deines Überlichtzwillings, Pirius, eine echte Sensation war. Hier draußen weiß jedoch jeder, dass die Vergangenheit ebenso ungewiss ist wie die Zukunft, weil man ständig sieht, wie sich die Zukunft verändert, wenn sich diese Schiffe aus Schlachten heimschleppen, die noch gar nicht stattgefunden haben. So ist es dir ergangen, Pirius! Der Gedanke, dass all dieses Leiden von einer Änderung der Geschichte weggespült werden könnte, ist hier leicht zu verkaufen.«
»Aus Ihrem Mund klingt das beinahe vernünftig, Kommissar«, meinte Pirius.
»Ist es ja auch! Religionen werden immer entstehen, selbst an einem emotional so sterilen Ort wie diesem; und natürlich werden sie Elemente ihrer Umgebung nutzen. Es wäre faszinierend zu beobachten, wie dieser neue Glaube sich in Zukunft entwickelt.«
»Aber Sie haben offenbar nichts dazu zu sagen, weshalb die Kadetten Bürdes Lehren überhaupt brauchen.«
Nilis verschränkte die Finger vor seinem üppigen Bauch. »Soldaten waren immer schon abergläubisch«, verkündete er. »Hat etwas mit dem Bedürfnis zu tun, in einer gefährlichen und unbeherrschbaren Umgebung die Kontrolle über sein Schicksal zu erlangen. Und die gewöhnlichen Soldaten sind immer für die Druz-Doktrinen eingetreten. Wir sind so weit weg von zu Hause.« Beinahe neugierig krümmte er die Finger vor seinem Gesicht. »Wir haben immer noch den Körper simpler Affen, wisst ihr. Ansonsten hat jedoch nichts von unserer einheimischen Ökologie überlebt: nur wir, unsere Magenbakterien sowie die Ratten, Läuse und Flöhe… Jetzt sind wir zu einem so tödlichen Ort vorgedrungen, dass wir uns in Asteroiden eingraben müssen, um zu überleben. Von unseren Ursprüngen ist nichts geblieben, nur wir selbst – und alles, was
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