Sternenkinder
Hinsicht ganz genauso wie das unserer Vorfahren. Weißt du, ganz früher gab es in einem Jahrzehnt mehr Neuerungen als heute in einem Jahrtausend.
In gewissem Sinn spielen die Xeelee gar keine Rolle mehr – nein, schau nicht so schockiert drein, es stimmt! Man könnte die Xeelee durch einen anderen Feind ersetzen, und es würde keinen Unterschied machen; sie sind nur ein Symbol. Wir haben vergessen, wer wir sind, woher wir kommen. Das Einzige, woran wir uns erinnern, das Einzige, was wir kennen, ist der Krieg. Er definiert die Menschheit. Wir sind die Gattung, die Krieg mit den Xeelee führt, sonst nichts.«
»Ist das denn so schlimm, Sir?«
»Jawohl!« Nilis schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Jawohl, das ist es. Und weißt du, warum? Wegen der Verschwendung.« Und er ratterte statistische Daten herunter.
In der Umgebung der Front gab es hundert menschliche Basen, die im Durchschnitt jeweils eine Milliarde Bewohner hatten. Der Generationswechsel in diesen Basen erfolgte in einem Zeitraum von ungefähr zehn Jahren.
»Das heißt, dass pro Jahr zehn Milliarden Menschen an der Front geopfert werden, Pirius. Diese Zahl übersteigt jedes Begriffsvermögen, jedes Einfühlungsvermögen. Zehn Milliarden. Das sind mehr als dreihundert in jeder einzelnen Sekunde. Man schätzt, dass alles in allem rund dreißig Billionen Menschen ihr Leben im Krieg gegeben haben: eine Zahl, die um mehrere Größenordnungen höher ist als die Anzahl der Sterne in dieser elenden Galaxis, um die wir kämpfen. Welch eine Verschwendung von Menschenleben!
Aber es besteht Hoffnung – und sie liegt wie immer bei der Jugend.« Nilis beugte sich mit einer Art abgeklärtem Eifer vor. »Bei Sag A Ost hast du – oder zumindest dein künftiges Ich – trotz lebenslanger Konditionierung den toten Imperativ der Doktrinen abgeworfen, als du in eine kritische Situation geraten bist. Du hast improvisiert und Kreativität, Initiative, Fantasie und Mut gezeigt… Und dennoch wirst du, wie es nun einmal in der statischen Natur dieses Krieges alter Leute liegt, als Bedrohung und nicht als wahres Juwel betrachtet.«
Es gefiel Pirius nicht, wie Nilis dieses Wort »Konditionierung« aussprach.
»Deshalb wollte ich dich mitnehmen, Pirius.« Nilis schaute zu den dahingleitenden Sternen, den lautlosen, unheilschwangeren Formen der Spline-Begleitschiffe hinaus. »Ich lehne diesen Krieg ab, und ich habe den größten Teil meines Lebens mit der Suche nach einer Möglichkeit verbracht, ihn zu beenden. Das heißt nicht, dass ich eine Niederlage anstrebe oder auf eine Einigung mit den Xeelee aus bin, denn ich glaube, eine solche ist nicht möglich. Ich suche einen Weg, den Krieg zu gewinnen – aber das bedeutet, dass ich den Status quo beenden muss, und allein damit habe ich mir in den Hierarchien der Koalition schon überall Feinde gemacht. Es ist ein einsamer Kampf, und ich werde allmählich alt und müde – und ja, ich bekomme Angst. Ich brauche deine Jugend, deinen Mut – und deine Fantasie. Also, was meinst du?«
Pirius runzelte die Stirn. »Ich will niemandes Krücke sein, Sir.«
Nilis zuckte zusammen. Aber er sagte: »Diese brutale Ehrlichkeit, die ihr immer an den Tag legt! Also gut, also gut. Du wirst keine Krücke sein, sondern ein Mitarbeiter.«
»Und ich verstehe nicht, weshalb Sie allein sind«, fuhr Pirius unsicher fort. »Was ist mit Ihrer – Familie? Sie haben etwas von einem Bruder gesagt.«
Nilis wandte sich ab. »Meine Eltern waren beide hochrangige Kommissare, die den unverzeihlichen Fehler begangen haben, sich zu verlieben. Meine Familie – und es war eine Familie der alten Art – war auf der Erde ebenso illegal, wie sie es auf der Bogen-Basis gewesen wäre. Sie wurde zerstört, als ich noch klein war – und mich hat man weggebracht.
Natürlich ist meine Herkunft der Schlüssel zu mir; das wird dir jeder Psychologe bestätigen. Man stelle sich vor, die Doktrinen versagen den Frauen das Recht, eine Geburt zu erleben! Was für eine schreckliche Entartung das ist. Du selbst, Pirius, wurdest ausgebrütet und nicht geboren. Du bist in einer Art Schule aufgewachsen, nicht in einem Zuhause. Am Schluss warst du sozialisiert und sehr gut ausgebildet. Aber – verzeih mir! – du bist nichts als ein Produkt deiner Verhältnisse. Du hast keine Wurzeln. Ich stamme aus – nun ja – primitiveren Verhältnissen. Daher schmerzt mich die brutale Verschwendung des Krieges vielleicht mehr als einige meiner Kollegen.«
Für Pirius
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