Sternenkinder
Archiv atembar war, immer eine solche Maske tragen musste; niemand hatte Pirius den Grund dafür erklärt, aber er war es auch nicht gewohnt, entsprechende Fragen zu stellen.
Nilis machte die beiden auf seine typische übermütige und onkelhafte Weise miteinander bekannt. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie privilegiert ich mich fühle, dass ich hier sein darf – hier, im größten Wissensspeicher im Sol-System, oder, wie ich zu behaupten wage, in der menschlichen Galaxis!« Er klopfte Pirius auf den Rücken. »Verliebt man sich da nicht wieder aufs Neue in die Koalition?«
»Ja, Sir«, sagte Pirius neutral.
Maruc führte sie aus dem Vorzimmer über ein paar flache Stufen in eine noch tiefer ins Gestein getriebene Kammer. Die Räume dieser riesigen, in den erkaltenden Leichnam des Olympus Mons gegrabenen Bibliothek hatten offenbar alle nur eine geringe Deckenhöhe; Pirius musste sich bücken.
Maruc kam ihm seltsam vor. Sie hatte sich den Schädel rasiert, trug das übliche bodenlange schwarze Gewand im Kommissarsstil, und sie war klein; sowohl Nilis als auch Pirius überragten sie um einiges. Mit dem Gewand hatte er gerechnet. Dieses Archiv, früher einmal eine unabhängige Einrichtung, war schon vor langer Zeit von einer der großen Akademien der Erde geschluckt worden, über die wiederum die allmächtige Historische Wahrheitskommission ihre Fittiche gebreitet hatte. Nilis hatte ihm diese lange bürokratische Saga in aller Ausführlichkeit geschildert, offenbar ohne zu merken, dass ihn die Organisationsgeschichte der Koalitionsbehörden noch weniger interessierte als die staubige Marslandschaft.
Angesichts der allgemeinen Körpergröße, die Pirius bei der marsianischen Bevölkerung aufgefallen war, überraschte ihn jedoch Marucs Kleinwüchsigkeit. Und auf den ersten Blick hätte er gesagt, dass sie jung wirkte, nur ein paar Jahre älter als er, vielleicht wie Anfang zwanzig. Doch ihr Gesicht war verkniffen, tiefe Linien furchten die Stirn, und die grauen Augen waren zwar klar, lagen aber in dunklen Höhlen. Sie war eine seltsame Mischung aus Jugend und Alter.
Er starrte sie an. Als sie seinen Blick auffing, krümmte sie sich ein wenig in sich zusammen.
Pirius schaute verlegen weg. Noch mehr Geheimnisse, dachte er müde.
Sie kamen durch eine letzte Tür und betraten einen langen Gang; sein niedriges, gewölbtes Profil, erhellt von schwebenden Lichtkugeln, erstreckte sich in beide Richtungen, bis eine sanfte Biegung seine ferneren Bereiche den Blicken entzog.
Maruc führte sie den Gang entlang. Die Wände zu beiden Seiten wurden in regelmäßigen Abständen von Türen unterbrochen, die allesamt identisch aussahen und keinerlei Aufschrift trugen. Der Korridor war offensichtlich sehr alt; der Boden war abgenutzt, die Wände waren glatt gewetzt. Die einzigen Menschen, die er sah, rannten in dem Gang hin und her und verschwanden in der staubigen Ferne. Pirius begann automatisch, die Türen zu zählen; ohne diese instinktive Disziplin hätte er schon bald nicht mehr gewusst, woher er gekommen war.
Eine der Türen öffnete sich, als sie gerade vorbeikamen. Ein Mann trat heraus; er hielt einen Stapel Data-Desks in den Händen. Er hatte ein schmales Gesicht und war genauso schmächtig wie Maruc, sah jedoch jung aus, ohne Marucs seltsame Spuren vorzeitigen Alterns zu tragen. Er ließ ihnen den Vortritt und ging dann ein paar Schritte hinter ihnen her, den Blick auf den abgenutzten Boden gesenkt. Pirius fand das merkwürdig. Aber Maruc schwieg, und Nilis bemerkte ohnehin nichts, weil er wie immer völlig mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war.
Eine der Korridorläuferinnen passierte die kleine Gruppe. Sie mussten sich an die Wand drücken, um sie vorbeizulassen. Sie trug Schwarz, aber ihr Gewand war abgeschnitten und gab den Blick auf nackte Beine frei. Sie lief konzentriert, die Augen geradeaus gerichtet, ihre Arme pumpten, die langen, spindeldürren Beine arbeiteten; sie hatte einen ausgeprägten Brustkasten, aber kleine Brüste, und sie schien gleichmäßig zu atmen. Sie lief an ihnen vorbei, ohne langsamer zu werden, und verschwand in der Biegung am anderen Ende des Korridors.
»Erstaunlich«, sagte Nilis, der ihr nachschaute. »Sie sieht aus, als könnte sie den ganzen Tag laufen.«
»Vielleicht könnte sie das«, sagte Maruc sanft. »Das ist ihr Spezialgebiet.«
»Wirklich? Sieh an, sieh an.« Nilis spielte den zu Besuch weilenden Würdenträger. Er versuchte, Maruc die Befangenheit zu nehmen, aber
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