Sternenkinder
Galaxis strömte in die gigantischen Bestände. Doch nach zwanzigtausend Jahren war das neue Material nur noch ein Tropfen im Ozean. Die Hauptarbeit bestand zurzeit in der Klassifizierung – Maruc sagte, es gebe hier komplette Index-Hierarchien – und der Wartung. Das vorhandene Material war permanent in Gefahr, physisch angegriffen zu werden – wenngleich eine Funktion des Olympus-Gesteins darin bestand, elektronisch gespeicherte Daten vor Schäden durch kosmische Strahlung zu bewahren –, und die Datenbestände wurden fortwährend von einem Medium aufs andere übertragen. Bei jeder Transkription wurden ausgeklügelte Tests mithilfe etlicher Vergleichskopien vorgenommen, um sicher zu gehen, dass sich keine Fehler einschlichen.
»Sie sehen also, wir hätten jede Menge Arbeit, selbst wenn nie auch nur eine einzige neue Datensendung käme«, sagte sie. »Unserer Hauptaufgabe besteht nämlich im Kampf gegen die Entropie. Dieses Archiv ist auf Dauer angelegt.«
»Wunderbar, wunderbar«, sagte Nilis.
Die Gemeinschaft sei das Ergebnis von Generationen der Spezialisierung, erklärte sie: Man wurde zum Bibliothekar geboren, man wuchs in Bibliothekarskadern auf, und der eigene Samen diente dazu, weitere Bibliothekare zu erzeugen, ein Jahrtausend nach dem anderen. Maruc stand hoch aufgerichtet da, und ihre Augen leuchteten in den Runzelnestern. »Wir, die Archivgemeinschaft, haben diesem Projekt die vergangenen Generationen geweiht, und wir weihen ihm auch die künftigen Generationen. Wir sind stolz auf unsere Arbeit. Wir glauben, dass unser Projekt den besten Traditionen der Druz-Doktrinen entspricht.«
»Ach du meine Güte, daran besteht gar kein Zweifel«, sagte Nilis. Er sah immer noch so aus, als wäre er entzückt, hier zu sein, dachte Pirius, wie ein Vielfraß in einem Lebensmittelgeschäft. »Aber ich würde euch gern einmal auf die Probe stellen…« Mit raschen Worten umriss er seine Wünsche.
Maruc hob eine Hand, und binnen Sekunden war ein Läufer an ihrer Seite. Diesmal war es ein Junge, und er war mit Sicherheit jünger als Pirius. Mit seinen langen, dünnen Beinen und dem kurzen Rumpf sah er unbeholfen aus, als könnte er jeden Moment umfallen. Doch selbst nachdem er zu ihnen gesprintet war, atmete er nicht einmal schwer. Maruc sagte ihm, was sie wollte, und er lief sogleich los.
Keine fünf Minuten später kam eine andere Läuferin herbei. Sie begleitete einen schwebenden Roboter. Er transportierte ein kleines, ramponiert aussehendes Data-Desk, eine Platte aus einem glänzend schwarzen Material, die von etwas Unsichtbarem – vielleicht einem Trägheitsfeld – in der Luft gehalten wurde.
Nilis stand über ihr. Sein Mund war ein rundes O. »Du meine Güte, du meine Güte«, sagte er.
Maruc lächelte. »Leider dürfen Sie es nicht berühren. Aber jeder gültige gesprochene Befehl wird akzeptiert.«
Das schwebende Data-Desk war so alt, dass seine Interface-Protokolle völlig fremd waren. Doch es dauerte nicht lange, dann sprach Nilis mit dem Desk, und seine Worte wurden in eine fremdartige, verzerrte Version der Standardsprache übersetzt.
Schließlich ertönte eine Stimme aus dem Desk, die gespeicherte Aufnahme einer abgehackten, ziemlich unpersönlichen Stimme, die denselben eigenartigen Dialekt sprach.
Nilis’ Augen wurden noch größer. »Weißt du, was das ist?«, fragte er Pirius. »Weißt du, wer da spricht?«
»Nein.«
»Hama Druz persönlich hat dieses Desk bei seiner Rückkehr vom Mond Callisto benutzt, wo er Jasofts gejagt hatte. Mit diesem Desk hat er seine Doktrinen verfasst, die Worte, die seit jener Zeit unser Leben bestimmen. Und diese Stimme, die uns bedächtig einen unfertigen Entwurf vorliest – diese Stimme gehört Hama Druz selbst! Hör dir das an, hör dir das an…«
Endlich hörte Pirius diese abgehackte und überkorrekte Stimme Worte sprechen, die so vertraut waren, dass nicht einmal der veraltete Dialekt sie verbergen konnte: »Ein kurzes Leben brennt hell.«
Nilis sagte: »Danke, Madam. Ich kann Ihnen gar nicht sagen – all die wahren Schätze der Menschheit sind hier, und ihr seid ihre würdigen Hüter.«
Maruc registrierte Nilis’ ekstatische Reaktion mit stillem Stolz.
Mit entschlossener Miene strich Nilis sein zerknittertes Gewand glatt. »Doch nun Schluss mit der Schwelgerei. Ich habe schließlich etwas zu erledigen. Madam, wenn Sie mir helfen würden – Pirius?«
»Ich komme schon zurecht«, sagte Pirius. »Ich schaue mich hier ein bisschen um.«
Maruc
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