Sternenlaeufer
Pergament geschriebene Worte zu ihm sprechen würden. Sie rieten ihm zu diesem oder jenem Zauber, stritten um die Vorzüge eines jeden, schlugen neue Varianten vor, die die besonderen Umstände berücksichtigten. In besorgtem Unterton warnte eine Frauenstimme ihn vor Gefahr. Ihre Stimme war die seiner Mutter, die von Lady Andrade und Tobin, und Nervosität und Fantasie sagten ihm, dass etwas davon auch Lady Merisel war, die jedes einzelne Wort auf die Sternenrolle geschrieben hatte. Sie hatte gefährliches Wissen erlangt und dann verborgen. Warum? War es das unheilvolle Zögern eines Gelehrten, das das Wissen hatte verschwinden lassen? Oder steckte etwas anderes dahinter?
Wahrscheinlich würde er dieses Wissen schon bald dazu verwenden, seinen eigenen Halbbruder zu töten. Er schaute in Ruvals Augen, und es waren weder Blutsbande noch brüderliche Gefühle, die ihn vor dem Unvermeidlichen zurückweichen ließen. Es war eine schreckliche, zerstörerische Traurigkeit. Sein Prinzentum, seine Stellung, selbst sein Leben waren durch den blutigen Tod anderer Menschen gewonnen worden: Ianthe und Roelstra, der angebliche Thronerbe Masul, Segev, Marron und jetzt Ruval. Was machte ihn so viele Tode wert? Aber dann dachte er wieder an Sorin, und Wut stieg in ihm auf. Diese anderen waren Todfeinde gewesen; Sorin war ermordet worden, weil er ihn verteidigt hatte. Für Sorin würde er diesen Kampf gewinnen. Für seine Mutter, die alles für ihn riskiert hatte. Und für seinen Vater.
Er hielt Ruvals Blick mit seinem eigenen fest und sah nicht seinen Bruder, sondern den Feind. Alle Feinde.
»Fangen wir an«, sagte er.
Kapitel 28
Stronghold: Frühjahr, 35. Tag
Andry stand auf der obersten Stufe und blickte in die Keller hinab. Er redete sich ein, dass er keine Angst vor Mireva hätte. Er wusste auch, dass dies zumindest zum Teil eine Lüge war. Er fürchtete nicht, was sie tun könnte, denn Rohans List mit dem Stahldraht hatte diese Angst mehr oder weniger beseitigt. Es war das, was er von ihr würde lernen können.
Geheimnisse, tödlicher als jene der Sternenrolle. Wege von Macht, die alles vergiften konnten, was er war. Wahrheiten, die letzten Endes seine Niederlage bedeuten konnten.
Wissen jeder Art bedeutete aber auch Macht. Und so stieg er schließlich die Treppe hinab in die kühle Dämmerung. In den Kammern zu seiner Linken befanden sich die riesigen Zisternen, die Strongholds Wasservorrat enthielten. Sie flossen in diesem Jahr beinahe über und enthielten jetzt ausreichend Wasser für die kommenden Jahre. Die Quelle in der Grotte lieferte den größten Teil, aber Andry konnte sich noch an Zeiten in seiner Kindheit erinnern, wo sie nahezu ausgetrocknet war. Selbst wenn sie einige Jahre lang staubtrocken sein würde, würde Stronghold noch immer Wasser in Hülle und Fülle haben. Es wurde frisch gehalten durch die Beigabe von Kräutern, die ihm auch seinen besonderen klaren Geschmack verliehen. Das war eine der Kleinigkeiten, die er in der Schule der Göttin vermisste, das leichte Prickeln dieses Wassers auf der Zunge.
Er blieb in einer Tür stehen, um die massiven Zisternen zu betrachten. Wie er vermutete, war es wohl das letzte Mal. Dann setzte er seinen Weg durch die Stapel von Kisten, überflüssigen Möbeln, aufgerollten Teppichen und anderen Gegenständen fort, bis er Mirevas Zelle erreichte. Auf dem Weg dorthin beschäftigte er sich mit anderen Plänen: Wie viele von Radzyns Bewohnern konnten in Stronghold untergebracht werden, wenn das Schloss fiel, falls es wirklich fiel? Wie viele konnten die Zisternen am Leben erhalten, und für wie lange? Wenn Stronghold ebenfalls eingenommen wurde, gab es dann eine Möglichkeit, den Eindringlingen diesen kostbaren Wasservorrat in der Wüste zu rauben?
Er glaubte an seine Vision, als wäre sie bereits Geschichte. Er hatte gedacht, dass sie vielleicht in diesem Frühjahr Wirklichkeit werden würde. Aber Radzyn stand noch immer. Er würde auf seinem Weg aus dem Prinzentum seines Onkels einen Umweg dorthin machen. Er sehnte sich verzweifelt danach, es heil und stolz auf seinen Klippen über dem Meer stehen zu sehen. Ein letztes Mal.
Es gab einen Keller unter diesem hier, der so geschützt war vor der sengenden Hitze, dass man dort Eis erzeugen konnte. Er dachte daran, wie er sich einmal mit Sorin dort hineingeschlichen hatte, als sie noch Kinder waren. Sie hatten genug von der Schicht aus Raureif abgekratzt, dass sie so etwas Ähnliches wie Schneebälle formen konnten. Er
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