Sternenschimmer
weiteres Mal. Ich richtete mich auf und konzentrierte mich auf meinen Kreislauf, atmete ein und aus, ein und aus. Irgendwann ging es wieder. Und noch eine Weile später fühlte ich mich stark genug, ein paar Schritte zu gehen. Ich überließ meinen Beinen die Richtung. Sie trugen mich die Straße hinab. Hinter einer Kurve stieß ich auf eine Kirche. Sie hatte einen Vorplatz. Dort stand ein Brunnen. Die Rohre mussten mit einer der Bergquellen verbunden sein, denn das Wasser plätscherte noch immer aus der verzinkten Maueröffnung. Erst bespritzte ich nur das Gesicht, dann spülte ich meinen Mund aus. Zuletzt schöpfte ich es mit vollen Händen und ließ es über meinen Nacken laufen. Als ich fertig war, richtete ich mich auf. Ich sah mich um. Die Straße schlängelte sich in die Berge. Rechts und links des überwucherten Weges standen Häuser, an deren Wänden der Putz abblätterte. Einige Fenster waren zerschlagen, andere hatten blinde Scheiben. Hinter ihnen waren angegraute Gardinenfetzen oder brüchige Rollos zu erkennen. Abgefallene Ziegel lagen auf der Erde und auf den Dachstellen, die noch gedeckt waren, grünte dickes, pelziges Moos. Hier und da grenzte auch ein heruntergekommener Schuppen an. Windschiefe Zäune umgaben die Gärten.
Während ich die Straße entlangging, versuchte ich mir vorzustellen, wie es hier früher ausgesehen hatte. Doch ich war zu müde. Von der Vergangenheit war sowieso nichts mehr übrig. Außer einer Tür, die vom Wind getrieben in ihren Angeln quietschte, wachte hier Stille über alles.
Dieser Ort war nicht nur verlassen, sondern auch vergessen. Ein Spiegel meiner Seele. Die Leere tat auf seltsame Weise gut. Sie barg nicht die Gefahr, etwas verlieren zu können.
Ich fuhr gehörig zusammen, als plötzlich eine Regentonne mit Gepolter über die Straße wehte.
Diesem Geräusch folgte ein weiteres. Ich drehte den Kopf. Es kam von der Kirche. Aber es war nicht rumpelnd und laut, sondern schwach. Es klang erbärmlich. Ich ging um die Kirche, eines der wenigen Gebäude, deren Mauern noch massiv schienen, und folgte dem Geräusch, das mich lockte.
Es schien unter der Pinie herzukommen. Es klang wie ein Piepsen, das mit jedem Schritt lauter wurde, den ich darauf zuging. Bis ich den kleinen Vogel sah. Blind und nackt lag er im Gras. Der Arme. Etwas regte sich in mir.
Ich blickte hinauf in die Baumkrone. Die Böe, die auch die Regentonne bewegt hatte, schien den Kleinen wohl aus dem Nest dort oben geweht zu haben. Die Vogelmutter war nirgends in Sicht. Lange würde das Junge nicht mehr hier am Boden überleben. Ich bedeckte es mit etwas sonnengetrocknetem Gras, damit es nicht allzu sehr auskühlte. Berühren wollte ich den Kleinen nicht. Wenn seine Mutter wiederkäme, würde sie ihn nicht mehr annehmen. Ein Krächzen aus der Baumkrone lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich blickte nach oben und erkannte eine Elster, die auf einem Ast herumkletterte, als könnte sie es kaum abwarten, dass ich mich von ihrem Mittagessen entferne. Ich klatschte laut in die Hände und wedelte mit den Armen, damit sie verschwand. Aber sie beharrte ebenso sehr auf ihr Vorhaben wie ich auf meinem, den Kleinen vor ihr zu schützen. Erst als ich ein paar Steinchen nach ihr warf, flatterte sie auf und nahm auf einem anderen Ast Platz, um dort auf ihre Gelegenheit zu warten. Stur setzte ich mich etwas entfernt auf eine Mauer, um meinen Schützling zu bewachen, bis seine Mutter kam.
Aber sie erschien nicht. Ich blieb den ganzen Vormittag. Das Piepsen des kleinen Vogels wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Die Elster versuchte immer wieder, sich an ihn heranzupirschen, und ich warf Steine nach ihr, damit sie verschwand.Ich überlegte, ob ich auf den Baum klettern und ihn selbst wieder in sein Nest zurückbringen sollte. Aber es war so weit oben, dass mir allein schon beim Hochschauen schwindelte. Mit nur einer Hand zum Festhalten würde ich das niemals schaffen.
Deshalb ging ich in die Hocke, hob ihn vorsichtig auf und wärmte ihn mit meiner Jacke. Im selben Moment flatterte eine Nachtigall aufgeregt zwitschernd näher. Ob das die Mutter war? Mist, jetzt würde sie ihn nicht mehr annehmen.
Ich wandte mich dem kleinen Patienten zu. Er lebte noch. Was war zu tun? Der einsetzende Regen nahm mir die Entscheidung ab. Schon nach wenigen Metern prasselten satte Tropfen auf uns nieder, und ich beeilte mich, in mein Haus zu gelangen, wo auch der Rucksack lag. Dennoch war ich bis auf die Haut durchweicht, als wir dort
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