Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
mich?«
»Erinnerst du dich nicht?«
Sie zuckte zusammen und steigerte seine Verwirrung damit noch. Es war, als hätte er einen wunden Punkt getroffen.
»Sag mir, woher du mich kennst«, forderte sie kalt.
»Du bist mein Zwillingsstern. Ich dachte, du seist tot.« Er biss sich auf die Unterlippe. Hatte er zu viel verraten? Aber nein. Falls es nur ein Spiel war, dann wusste sie genau, wem sie glich, und sollte es ihr ernst sein, dann musste er ihr helfen, ihre Erinnerungen zurückzugewinnen. Und dann?, fragte er sich. Wie sollte er ihr verzeihen, was sie Lilly angetan hatte? Was wäre geschehen, wenn sie sie nicht getötet hätte? Wäre dann ein anderes Mädchen gestorben? Hätte er weiter glücklich mit ihr leben können? Oder stand Lillys Schicksal ohnehin fest und Amadea war nur ein Werkzeug irgendeiner höheren Macht?
Nicht ablenken lassen, ermahnte er sich. Philosophische Betrachtungen halfen ihm nicht weiter, auch wenn sie ihm einen Moment Zuflucht vor der Gegenwart boten.
»Das kann nicht sein«, begehrte sie auf. »Ich bin keine von euch Kreaturen. Niemals.«
Raphael prallte vor ihrer Verachtung zurück. Ihre Launen kamen und gingen wie Blitzeis. »Das bist du wahrhaft nicht. Nicht mehr. Verrate mir, was mit dir geschehen ist.«
Die Wut erlosch in ihrem Gesicht. »Sehe ich tatsächlich so aus wie sie?«
»Du gleichst ihr bis aufs Haar. Selbst die Art, wie du deinen Kopf schief legst, erinnert mich an sie.«
»Das kann nicht sein. Mein Leben besteht darin, euch zu töten.«
»Dann bist du eine Sternenbestie?«
Sie ballte die Fäuste. »Ich weiß nur, was ich nicht bin. Kein Mensch. Keine Sternenseele. Keine Bestie.«
»Ich will dir helfen.«
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Warum solltest du das tun? Ich habe dein kleines Menschenmädchen getötet.«
»Wenn du Amadea bist, dann war ich dazu bestimmt, auf dich aufzupassen. Offensichtlich habe ich versagt, also muss ich es wiedergutmachen.«
»Amadea?«
»Dein Name.«
Sie nickte, wiederholte ihn, ließ die Silben über die Zunge rollen, als würde sie einen kostbaren Wein probieren.
»Warum bist du hergekommen?«
Sie legte den Kopf schief, zögerte. »Etwas zieht mich zu dir.«
Er glaubte, sein Innerstes würde gefrieren. Sie musste es sein. Warum sonst sollte sie die Verbindung zwischen ihnen spüren? »Komm mit mir. Lass uns gemeinsam ergründen, was geschehen ist.«
Sie zögerte. Einen Augenblick sah es so aus, als stimme sie ihm zu. »Sie werden mich töten.«
»Das werde ich nicht zulassen.« Er konnte seine Zweifel nicht verbergen. Er hatte es kaum fertiggebracht, Lilly vor den anderen Sternenseelen zu beschützen, und sie war nur ein einfacher Mensch gewesen, deren einziges Verbrechen darin bestand, zu viel gesehen zu haben. Er wollte sich nicht ausmalen, wie sie auf eine Dienerin Lucretias reagieren würden. Und über die Stargazer hatte er keine Macht. »Wir gehen fort von hier, an einen Ort, an dem wir in Sicherheit sind, bis wir mehr wissen.«
»Das würdest du tun?« So etwas wie Hoffnung spiegelte sich auf ihren Zügen wider und verlieh ihm Zuversicht, dass noch etwas von dem Menschen oder der Sternenseele in ihr steckte, dass sie nicht vollkommen vom Bösen besessen war. Er sah ihr in die moosgrünen Augen, an deren gebrochenen Blick er sich noch immer erinnerte. Nie wieder wollte er sie so sehen.
Er musste sie beschützen.
45
† A lles in Ordnung?«, flüsterte Samuel. »Bist du wieder ganz du selbst?«
Lilly fühlte sich, als würde sie aus einem verrückten Traum erwachen, in dem sie wie ein Schlafwandler durch die Schule geirrt war, eingesperrt in einem Körper, über den sie keine Kontrolle hatte. Sie schüttelte den Kopf. Waren das erneut Nachwirkungen vom Unfalltod ihres Vaters? Sollte sie nicht langsam darüber hinweg sein, anstatt immer mehr zum Freak zu mutieren? Sie blickte ihren Stiefbruder an, und für einen Moment war es, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Seine funkelnden Augen, die selbst im Winter noch immer leicht gebräunte Haut, die wuscheligen Haare und der durchtrainierte Körper eines Sportlers. Der Traum eines jeden Mädchens.
Wie einen Stromschlag durchzuckte es sie, als die Erinnerungen zurückkehrten. Benommen strich sie sich über die Stirn. Es war jeden Tag anders, manchmal wusste sie sofort, wer sie war, und an anderen Tagen schienen alle ihre neueren Erinnerungen ausgelöscht worden zu sein, als würde ihr Gehirn sich weigern, die Unfassbarkeit ihres Todes und der darauf folgenden
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