Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Augen glitten stolz über die Zuschauer hinweg. »Natürlich sind sie nur gekommen, um zu sehen, wie ich das Blaue Lied trage.« Er hob den Kopf und zeigte seine Zähne. »Also?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Danior, erkannte aber an dem Blick, den Rezni schleuderte, daß seine Prahlerei auf
Keva abzielte. Als sie nicht darauf reagierte, ließ das gesteigerte Interesse Reznis Augen sprühen. Doch bevor er einen erneuten Versuch machen konnte, Kevas Aufmerksamkeit zu erlangen, kehrte Tedni zurück und streute gebieterisch in alle Richtungen Instruktionen aus. Rezni knallte die bloß Hacken zusammen. »Der Viir-Nega kommt. Ich werde dir den Sattel helfen.«
Keva betrachtete ihn mit kühlem Blick. Sie legte langsam den Striegelkamm beiseite, griff in die Mähne des Tieres und zog sich auf dessen Rücken. »Ich brauche keine Hilfe.«
Reznis dunkle Augen blitzten auf; die Zuschauer seufzte als Keva die Zügel um die rechte Hand wickelte und das Kinn hob. Ihr Gesicht war bleich, jeder Muskel darin unter Kontrolle, sie hätte aus Stein gemeißelt sein können.
Danior ging rasch nach vorne, nahm sich den Halfterriemen der Weißmähne und bemühte sich darum, die gleiche gelassene Beherrschung anzunehmen. Denn das war es, was Jhaviir von ihm wollte: ein Auftritt. Er brachte es sogar fertig, Reznis Überheblichkeit nachzuahmen. »Welcher Strecke, folgen wir, Nathri-Varnitz?«
Rezni schaute zu Keva empor, seine dunklen Augen blitzten berechnend. »Ich werde zu deiner Linken gehen und sie dir zeigen«, sagte er. »Und wenn sich das Balg mehr als fünf Schritte an uns herandrängt, werden wir anhalten und es in die Dornen werfen. Ein paar Kratzer werden sein Aussehen veredeln. «
Jhaviir trat aus seinem
han-tau,
und die Menschen in der Gasse begannen zu brüllen. Er trug Gewand und Hose in strahlendem Weiß, ein geflochtenes Seil lag um seine Taille. Mehr noch, er verbreitete um sich eine Atmosphäre von Herrschaft, die alle ergriff. Sein geöltes Gesicht schimmerte. Auf den ausgestreckten Händen trug er das zusammengefaltete Blaue Lied. Danior blickte ihn an und entdeckte keine Spur des erschöpften Mannes, der am Abend vorher mit ihnen gesprochen hatte.
Jhaviir hob die Arme und begrüßte die Menschen in der Clansprache. Dem jäh aufbrausenden, johlenden Geschrei und dem Stampfen der Füße entnahm Danior, daß die Worte eine rituelle Ansprache zum Inhalt hatten. Jhaviir reagierte mit einem Schrei auf ihre Erwiderung. Und dann begann die Prozession. Jhaviir und Keva ritten; Rezni trug das Blaue Lied auf ausgestreckten Händen; Danior führte Ranslega, und Tedni drängelte sich so ungestüm vor, daß er Danior auf die Fersen trat. Rezni zischte ihm etwas zu, ohne seinen Schritt zu unterbrechen. Und im Laufe der Zeit, in der sich die Prozession durch alle Gassen Pan-Vis wand, brachte Rezni Danior eine Reihe von Flüchen bei. Tedni nahm sie als Tribut entgegen, grinste grimmig und drängte weiter, bis es sogar Keva schwerfiel, ein mattes Lächeln zu unterdrücken. Als die Prozession endlich die Außenbezirke der Wüstensiedlung erreichte, marschierten jeder Mann, jede Frau und jedes Kind Pan-Vis mit. Einige trugen gebleichte Gewänder, andere nur bunte und verschmutzte Hosen. Doch alle trugen eine blaue Schärpe und dazu noch eine andersfarbige: golden, scharlachrot, smaragdgrün, violett. An jeder tadle hing ein Messer, jede Hand umklammerte einen Speer. Eine Gruppe aus Männern und Frauen humpelte einher, von den anderen abgesondert. Sie trugen Gewänder, die mit getrocknetem Blut bespritzt waren. »Die, welche die Klinge des Feindes gespürt und überlebt haben, um zu berichten«, erklärte Rezni Danior. Eine andere Gruppe, bestehend aus Männern, Frauen und Kindern, trug halbverbrannte Kleider. »Die, welche seit dem letzten Clan-Ruf einen Krieger verloren haben.« Ihre Anzahl ließ Danior schaudern, da er wußte, daß sich der Clan in jeder Saison zum Ruf versammelte.
Endlich hatten sie die Gassen hinter sich. Sie standen auf einer flachen Anhöhe und schauten auf die Menschenmenge hinunter. Danior sah sich um und entdeckte einen alleinstehenden Baum; seine Äste waren beschnitten, die Erde um die Wurzeln war feucht. Danior nahm an, daß dort das Blaue Lied erklingen würde.
Doch zuerst kamen die Reden. Jhaviir begann mit einer langen, theatralischen Ansprache, die die Menschen murren, mit den Füßen stampfen und finster in die kahle Landschaft blicken ließ. Ihm folgten der Reihe nach alle Führer der
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