Sternenstaub (German Edition)
den Phönix und der Drache fiel tot aus den Lüften nieder zur Erde. Im Anblick des blauen Blutes, das um den toten Phönix herum in die Erde Kerdoniens sicker-te, kam der stolze Herrscher zu sich, doch es war zu spät. Voller Furcht erstieg er den höchsten Turm seines Schlos-ses und richtete seinen Blick in die Weite, um die Zukunft zu erfahren. Doch er vermochte es nicht, schwach fühlte er sich, hohl und leer. Eine Zeit verging, und schon hoffte der Übeltäter, dass der Verlust seiner Gabe, in die Zukunft zu schauen, die einzige Strafe sei, die ihm zuteil werden würde. Doch eines Tages fand man auf dem Innenhof des Schlos-ses einen rot glühenden Stein, auf dem eine Botschaft ein-geritzt war: Durch die Missachtung der Warnungen wurde in den grauen Bergen das Böse geboren, durch den Spott reifte es, und durch das vergossene Blut des dritten Boten wurde das Böse stark und leben-dig. Einst wird es aus den Bergen niedersteigen, um Blut mit Blut zu vergelten.
Der reumütige König lebte seit diesem Tag zurückgezogen in seinem Schloss. Ein Jahr, nachdem er diese furchtbare Prophezeiung erhalten hatte, sammelte er seine treusten Männer und ritt dem grauen Gebirge entgegen. Die Bauern, die an den Füßen der Berge wohnten, sahen ihn mit seinem kleinen Gefolge, die steilen Hänge erklimmen und in das dichte graue Wolkenmeer eintauchen. Niemand sah ihn je wieder, niemals kehrte er zurück.“
„Er wollte bestimmt das Böse bekämpfen bevor …!“, flüs-terte Prinz Ferfarel, dem das, was sein Vater erzählt hatte, wie ein spannendes Märchen vorkam.
„Ja, mein Sohn“, sagte sein vom Leben müder Vater.
„Doch es hat ihn verschlungen und wer weiß, wann es aus den Bergen niedersteigen wird, um mehr Blut zu fordern.“
Bis ins kleinste Detail hatte sich dieses letzte Gespräch mit seinem Vater in König Ferfarel Gedächtnis eingeprägt. Und immer, so auch jetzt, als er die kahlen steinigen Eng-pässe und Schluchten der grauen Berge mit den Augen durchkämmte, wünschte König Ferfarel, sein Geschlecht hätte die Gabe behalten, in die Zukunft zu blicken, und be-säße noch das Vermögen, eine kommende Gefahr zu er-kennen, bevor sie über das Land hereinbrach.
Prinzessin Sibele, die Tochter König Ferfarels, stand in ihrem Gemach auf einem Stuhl vor einem großen recht-eckigen Spiegel. Die emsigen Hände ihrer Kammermäd-chen machten sich an dem weiten Hochzeitkleid aus glän-zender Seide zu schaffen, das sie trug.
Sibele war ein sehr lebendiges, hellhäutiges Mädchen, noch nicht zwanzig Jahre alt, mit schwarzen geschmeidigen Haa -ren und den kraftvoll blau leuchtenden Augen ihres Vaters.
So wie er besaß auch sie die Gabe, in die weite unendliche Ferne zu blicken. Doch das tat sie selten. Das junge Mäd -chen hatte mehr Interesse an den Dingen in ihrer Nähe, an den Personen und Gegenständen, die sie umgaben, als die, die unerreichbar in der Ferne weilten. Von aus der Ferne drohenden Gefahren, dunklen Geheimnissen und unheim-lichen Gerüchten wollte sie garnichts wissen, dafür war sie zu lebensfroh, und außerdem war sie zu sehr mit den schö-nen Seiten des Lebens beschäftigt, wie zu dieser Stunde, ihr prachtvolles Hochzeitkleid.
An diesem Tag war sie so froh und glücklich wie niemals zuvor. Als sie da vor dem Spiegel stand, in prachtvollem Weiß, schlug ihr junges Herz so schnell und leicht im Über -fluss der übermütigen Gefühle.
Aber nicht nur die Freude an ihrer anmutigen Gestalt oder an dem wertvollen Kleid, das sie trug, ließ sie so fühlen, der Gedanke an das, was sie die nächsten Tage erwartete, war der größte Grund ihrer Heiterkeit. Sie sollte heiraten, in zwei Tagen.
Ihr Bräutigam war nach Meinung der Prinzessin der schönste, anmutigste Mann, den es in ganz Kerdonien gab. Und da waren alle Frauen in Kerdonien mit ihr einig:
Prinz Leopold vom Waldvolk galt als der begehrenswer -teste Junggeselle Kerdoniens.
Prinzessin Sibele war es egal, dass er nur ein sogenannter Erdmensch war, ein Waldläufer mit sehr großen seltsam geformten Füßen.
Das Waldvolk war mit der Natur, mit Erde und Wald wie eins, das Leben in der freien Natur hatte ihre Gestalt ge-formt. Frauen wie Männer waren groß gewachsen mit über-langen kräftigen Gliedmaßen, ihre Haut war von braun-grüner Tönung.
So wie das Her rschergeschlecht, das Volk der Seher, hatte auch das Waldvolk eine besondere Gabe. Sie besaßen das Wissen über die Heilkraft der Natur. Kranke kamen aus ganz
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