Sternenwind - Roman
Dass andere Leute über mich entscheiden.« Jeder Muskel ihres Körpers schien angespannt zu sein.
Ihr Zorn fühlte sich gefährlich an. Ich spürte die Hitze, die auch meine Wut und Enttäuschung auftaute.
»Alicia.« Ich nahm ihr das Tablett aus der Hand und stellte es ab. »Wir sind noch nicht mit dem Essen fertig. Willst du einfach in die Stadt stürmen und ihn aus dem Gefängnis holen? Wir müssen nachdenken.« Ich stand auf und sah sie an, während mir bewusst wurde, dass ein Gespräch, wie ich es mir vorstellte, in Anwesenheit von Tom und Paloma nicht möglich war. »Kommt mit, Alicia, Joseph, Kayleen. Wir werden darüber reden.« Ich sah Paloma an. »Du hast vorhin zu uns gesagt, dass ihr nicht unsere Probleme lösen könnt. Du hast recht. Ihr habt uns geholfen, Alicia in Sicherheit zu bringen, aber diesmal müssen wir unsere eigenen Entscheidungen treffen.«
Paloma schluckte und sah zu Kayleen hinüber. Eine Träne lief über ihre Wange.
Tom runzelte die Stirn, doch dann nickte er knapp. »Geht nicht zu weit weg.«
Nur bis wir außer Hörweite waren. Niemand sonst rührte sich. »Nun?«
Alicia wiegte sich auf den Fußballen vor und zurück. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich habe es satt, herumkommandiert zu werden. Und niemand hat dich zu meiner Hüterin gemacht, Chelo.«
Kayleens Antwort bestand darin, aufzustehen, sich neben mich zu stellen und meine Hand zu nehmen.
Alicia rührte sich nicht von der Stelle. Sie blieb auf der Decke hocken, wie eine sprungbereite Feder. Ihr Gesicht zeigte zornige Entschlossenheit. Nur in ihren Augen stand etwas anderes als Wut – darin blitzte leichte Unsicherheit auf.
Joseph ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Er sah mich mit einem furchtbar zerrissenen Gesichtsausdruck an, als wäre er zwischen zwei gegenläufigen Mondgezeiten gefangen. Ich hielt seinem Blick stand und versuchte ihn mit bloßem Willen zu zwingen, zu mir zu kommen. Mindestens fünf Atemzüge lang gab keiner von uns beiden nach. Es schien, als wäre die gesamte Mittagsgesellschaft erstarrt, als würde jeder abwarten, wer sich als Erster bewegte.
Joseph senkte den Blick.
Doch er kam nicht zu mir, sondern hockte sich neben Alicia. Er schaute ihr in die Augen und streckte die Hand aus. Seine Hand hing sehr lange in der Luft, bevor sie sie nahm, aufstand und mit ihm zu Kayleen und mir herüberkam. Ich zeigte die Richtung an, dann führten Joseph und Alicia uns Hand in Hand zum Seeufer hinunter. Keiner von uns blickte sich zu Tom und Paloma um, die schweigend sitzen geblieben waren, aber ich spürte, wie sie uns beobachteten – und wie sich eine kleine Kluft zwischen uns und ihrer Unterstützung auftat.
Wir setzten uns nicht weit von der Stelle, wo wir die Gebras getränkt hatten, ans Ufer. Vor uns breitete sich der See aus, auf der linken Seite die Berge mit der Höhle – und mit den Relikten unserer Vergangenheit und Zukunft, kaum noch sichtbar hinter der Krümmung des Kleinen Samtsees. Ein leichter Wind wehte über das Wasser heran und roch nach Feuchtigkeit, Moos und nassem Holz. Alicia saß in Josephs Armen links von mir, Kayleen rechts von mir.
»Also gut«, sagte ich. »Es sieht schlecht aus. Wir wissen nicht, wie schlecht. Wir wissen nur, dass Bryan in Schwierigkeiten steckt, aus denen er nicht allein herauskommen wird. Und ich vermute, das, was geschehen ist, wird sich auch nicht günstig auf uns auswirken.«
»Mutter wird uns unterstützen«, sagte Kayleen. »Und Tom.«
Alicia setzte sich auf und blickte an mir vorbei zu Kayleen. Ihre Augen wirkten kühl. »Wirklich? Sie haben uns drei Tage lang nichts über Bryan gesagt.«
»Was wäre geschehen, wenn sie es getan hätten?«, fragte ich. »Hätten wir dann den Tag mit Jenna verbracht und viele neue Dinge gelernt? Niemand wünscht sich mehr als ich, dass Bryan freikommt. Aber was ist, wenn wir zurückkehren und man uns ebenfalls einsperrt? Was ist, wenn wir in Artistos überhaupt nichts bewirken können? Wir brauchen einen Plan.«
»Bryan und Liam haben mich befreit«, sagte Alicia. »Ich könnte nicht damit leben, ihn im Stich zu lassen, nicht, nachdem er mir geholfen hat.«
»Und du könntest nicht damit leben, wieder eingesperrt zu werden«, gab ich zurück. »Wir tun, was sie von uns erwarten, und wir lernen Dinge, von denen sie nichts wissen, Dinge, die wir einfach lernen müssen. Es ist unmöglich, sich in Artistos länger mit Jenna zu unterhalten, selbst wenn wir nicht aufmerksam beobachtet
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