Sternenzitadelle
lief die zwölf Stufen zum Eingang des Tempels empor. Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte ihn; er hatte den Eindruck, auf Sonnenstrahlen zu gehen. Es herrschte eine unglaublich heitere und gleichzeitig ernste Atmosphäre, die seine Euphorie noch verstärkte. Die Säulen – eher wirbelnde Lichtgebilde als Konstruktionen aus Materie – verschmolzen mit einer Decke, die einem sternenübersäten Himmel glich.
Shari erwartete seinen jungen Gefährten in der Vorhalle.
»Willkommen in der letzten Bastion der Menschheit, Jek At-Skin«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln. »In fünfzehntausend Jahren haben nur zwei Personen diesen Tempel betreten: der Narr der Berge und ich. Der Narr ist gegangen, und die Inddikischen Annalen warten auf ihren neuen Hüter …«
»Sind Sie nicht ihr neuer Hüter?«, fragte Jek, und seine Stimme klang wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in der Stille.
»Ich glaubte es zu sein. Aber ich liebe Oniki, und ein Hüter kann nicht zwei Lebenswege einschlagen. Denn er wacht viele Tausend Jahre über die Annalen, wie einst ihres Rechts verlustig gegangene Männer über das Feuer wachten, damit es niemals ausgehe.«
»Vielleicht müssen die Annalen jetzt nicht mehr bewacht werden …«
»Alles Existierende auf dieser Welt muss durch einen Zeugen bekundet werden, um seine Existenz zu bestätigen. Das Beobachtete existiert nicht ohne seinen Beobachter. Wären die Annalen ohne Hüter, hätten sie keine Daseinsberechtigung mehr – doch wenn es sie nicht mehr gibt,
wird die Menschheit ausgelöscht. Zwischen meinem Vater Tixu, meiner Mutter Aphykit und mir sind die Rollen nicht mehr wie vorgesehen verteilt, und das Hyponeriat hat aus dieser Tatsache einen entscheidenden Vorteil gezogen.«
»Vorgesehene, also vorherbestimmte Rollen?«
»Die Nachfolge des Großmeisters der Inddikischen Wissenschaften wurde von den letzten drei Großmeistern Sri Mitsu, Sri Alexu und dem Mahdi Seqoram nicht gesichert. Letzterer, der Großmeister des Ordens der Absolution, wurde ermordet, ehe er einen Nachfolger bestimmten konnte. Die Annalen informierten den Narren der Berge von diesem Geschehen, als er – indem er mit dem Gebot der Neutralität in seiner Eigenschaft als Hüter brach – mit Sri Mitsu telepathisch in Kontakt trat. Doch Sri Mitsu lebte, von der Kirche des Kreuzes verurteilt, in der Verbannung und weigerte sich, den Bruch in der Nachfolge wieder zu kitten. Also begab sich der Narr der Berge auf Terra Mater, die Wiege der Menschheit, und lehrte mich die Grundbegriffe der Inddikischen Wissenschaften, bis die neuen Großmeister, Tixu und Aphykit, die Nachfolger Sri Mitsus und Sri Alexus, zu uns stoßen und wir wieder eine Einheit bilden könnten. Die beiden sollten diese Aufgabe übernehmen, doch sie waren nur mit sich und ihrer Liebe zueinander beschäftigt und haben mich allein gelassen. Wir alle waren unentschlossen, der Narr der Berge hat diese Welt verlassen, und die Einheit wurde nicht wiederhergestellt, weil wir die Regeln gebrochen haben. Also brach ein neues Zeitalter an, doch mit ungewissem Ausgang. Vielleicht werden Tixus verzweifelte Bemühungen jetzt Wirkung zeigen …«
»Welche Gefahren drohen denn den Menschen?«, fragte Jek, den trotz der strahlenden Schönheit des Tempels ein unheilvolles Gefühl beschlich.
»Wir werden alle von der In-Creatur verschlungen, so wie es dir fast vorhin passiert wäre. Wir versinken im Nichts, als hätten wir nie existiert. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, noch haben wir eine Erinnerung an das, was wir einmal waren. Das gesamte Universum – dessen Fortbestehen auf menschlichem Denken gegründet ist – wird in seiner Vielfalt verschwinden. Sollten wir besiegt werden, wird die Schöpfung nicht mehr existieren, Jek.«
Der Anjorianer hatte das Gefühl, sein Herz werde durchbohrt und der Blouf habe sich bereits in den Tempel geschlichen und würde ihn als seine Beute wie ein ausgehungertes Raubtier belauern.
»Was müssen wir tun, um das zu verhindern?«, fragte er mit tonloser Stimme.
»Ich hoffe, dass die Annalen uns auf diese Frage eine präzise Antwort geben …«
»Haben sie das denn noch nicht getan?«
»Doch. Sie haben uns bereits unzählige Antworten gegeben. Aber da sich die gesamte Menschheit unablässig in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, kann man diese Antworten höchst unterschiedlich interpretieren.«
»Wie wird uns denn die Antwort übermittelt? Mittels Holovision?«
»Komm mit. Dann siehst du
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