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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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wird. Daher rührt bekanntlich die Definition, die er seiner eigenen Tätigkeit gegeben hat; er nennt sich, wie jeder weiß, Prothet.

  Zum erstenmal kam ich mit dem Wirken des Meisters Oh auf Europien in Berührung. Auf diesem Planeten brodelte es seit eh und je, unter den Einwohnern gab es oft Streit, es herrschten Haß und Böswilligkeit. Der Bruder beneidete den Bruder, der Schüler haßte seinen Lehrer, der Untergebene den Vorgesetzten. Aber als ich dort eintraf, fielen mir die allgemeine Sanftmut und die zärtliche Liebe auf, die ausnahmslos alle Mitglieder der planetaren Gesellschaft einander angedeihen ließen. Ich versuchte natürlich zu ergründen, welches die Ursache dieser so erbaulichen Veränderung gewesen sein mochte.
      Als ich einmal in Begleitung eines guten Bekannten, eines Einheimischen, durch die Straßen der Hauptstadt schlenderte, entdeckte ich in zahlreichen Schaufenstern Köpfe von natürlicher Größe, die wie Hüte auf Ständern ausgestellt waren, sowie große Puppen, die vortrefflich die Europier darstellten. Mein Begleiter, den ich darüber befragte, erklärte mir, es seien Ableiter für unfreundliche Gefühle. Sobald jemand gegenüber einer Person Abneigung oder gewisse Vorurteile hege, suche er einen solchen Laden auf und bestelle ein getreues Abbild des Betreffenden, um sich mit ihm in den eigenen vier Wänden einzuschließen und mit ihm nach Herzenslust zu verfahren. Begüterte Personen könnten sich eine ganze Puppe leisten, bedürftigere müßten sich mit der Mißhandlung bloßer Köpfe begnügen.
      Diese mir bislang unbekannte Errungenschaft sozialer Technik, die als Prothese des Freien Handelns bezeichnet wurde, veranlaßte mich, genauere Erkundigungen über ihren Schöpfer einzuholen, der sich dann als Meister Oh herausstellte.
      Später, wenn ich mich auf anderen Himmelskörpern aufhielt, hatte ich immer wieder Gelegenheit, Spuren seines wohltuenden Wirkens kennenzulernen. So lebte auf dem Planeten Ardelurien ein berühmter Astronom, der behauptete, der Planet drehe sich um seine eigene Achse. Diese These widersprach jedoch dem Glauben der Ardeluren, demzufolge der Planet der unbewegliche Mittelpunkt des Universums sei. Das Priesterkollegium zitierte den Astronomen vor ein Gericht und verlangte, daß er seine ketzerische Lehre widerrufe. Als er sich weigerte, verurteilte man ihn zum Tode auf dem Scheiterhaufen, damit er von seinen Sünden gereinigt werde. Als Meister Oh davon erfuhr, reiste er nach Ardelurien und führte dort Gespräche mit den Priestern und mit dem Gelehrten, aber beide Seiten beharrten fest auf ihrem Standpunkt. Nachdem der weise Mann eine ganze Nacht überlegt hatte, kam er auf die richtige Idee, die er sogleich in die Tat umsetzte. Er erfand die Planetenbremse. Mit ihrer Hilfe wurde die Rotationsbewegung des Planeten aufgehalten. Der Astronom, der im Gefängnis saß, überzeugte sich nach einer erneuten Beobachtung des Himmels von der eingetretenen Veränderung, er widerrief seine bisherigen Behauptungen und akzeptierte bereitwillig das Dogma von der Unbeweglichkeit Ardeluriens. Auf diese Weise wurde die Prothese der Objektiven Wahrheit geschaffen.
      Übte Meister Oh nicht gerade eine gesellschaftliche Tätigkeit aus, dann befaßte er sich mit Forschungsarbeiten anderer Art. So schuf er zum Beispiel ein Verfahren zur Entdeckung von Planeten, die von vernunftbegabten Wesen bevölkert sind – die Methode des »Schlüssels a posteriori«, ein, wie jeder geniale Einfall, unerhört einfaches Verfahren. Leuchtet an einer Stelle des Firmaments, an der es bislang keine Sterne gab, ein neues Sternchen auf, so zeugt das davon, daß gerade ein Planet zerfällt, dessen Bewohner eine hohe Zivilisationsstufe erreicht und Methoden zur Freisetzung der Atomenergie ersonnen haben. Meister Oh bemühte sich, derartige Vorkommnisse nach Möglichkeit zu verhüten, und zwar dadurch, daß er den Bewohnern der Planeten, auf denen die Vorräte an natürlichen Brennstoffen, wie Kohle oder Erdöl, zur Neige gingen, die Aufzucht elektrischer Aale empfahl. Diese Methode bürgerte sich auf mehreren Himmelskörpern als Prothese des Fortschritts ein. Welcher Kosmonaut ist nicht angetan von den Abendspaziergängen auf der Enteroptose, wenn ihn bei einer Wanderung im Dunkeln ein dressierter Aal mit einer kleinen Glühbirne im Maul begleitet!
      Mit der Zeit wuchs in mir immer mehr das Verlangen, Meister Oh kennenzulernen. Mir war allerdings klar, daß ich mich, ehe ich seine

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