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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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schlief, bis die Sonne hoch am Himmel stand.
    Am folgenden Tag ging der Markt zu Ende, aber Dunstan kehrte nicht auf die Wiese zurück. Die Fremden verließen das Dorf, und in Wall kehrte wieder der Alltag ein, wenn er sich vielleicht auch etwas anders gestaltete als in den meisten anderen Dörfern – insbesondere wenn der Wind aus der falschen Himmelsrichtung kam.
     
     
    * * *
     
    Zwei Wochen nach dem Markt machte Tommy Forester Bridget Comfrey einen Heiratsantrag, den sie annahm. Eine Woche darauf besuchte Mrs. Hempstock am Morgen Mrs. Thorn.
    »Ein Segen, dieser Forester-Junge«, meinte Mrs. Hempstock, als sie sich im Salon niedergelassen hatten.
    »So ist es«, bestätigte Mrs. Thorn. »Sicher ist Eure Daisy Brautjungfer.«
    »Das nehme ich an«, entgegnete Mrs. Hempstock, »falls sie es erlebt.«
    Beunruhigt blickte Mrs. Thorn auf. »Aber sie ist doch nicht krank, Mrs. Hempstock, nicht wahr?«
    »Sie will nicht essen, Mrs. Thorn. Sie wird immer schwächer. Nur ein wenig Wasser nimmt sie von Zeit zu Zeit zu sich.«
    »Ach herrjemine!«
    »Gestern abend habe ich endlich den Grund dafür erfahren«, fuhr Mrs. Hempstock fort. »Es ist Euer Dunstan.«
    »Dunstan? Er hat doch nicht…« Mrs. Thorn hob die Hand zum Mund.
    »Aber nein«, entgegnete Mrs. Hempstock kopfschüttelnd und spitzte die Lippen, »nichts dergleichen. Er ignoriert sie. Seit Tagen hat er sich nicht bei ihr blicken lassen. Jetzt hat Daisy sich in den Kopf gesetzt, daß er sie nicht mehr mag. Sie hält das Schneeglöckchen fest, das er ihr geschenkt hat, und weint.«
    Mrs. Thorn gab Tee aus der Dose in die Kanne und fügte heißes Wasser hinzu. »Um die Wahrheit zu sagen«, gestand sie, »Thorney und ich, wir machen uns auch ein wenig Sorgen um Dunstan. Er träumt und geistert herum, schafft seine Arbeit nicht. Thorney meint, der Junge muß endlich vernünftig werden. Wenn er sich niederlassen und eine Familie gründen würde, sagt Thorney, würde er dem Jungen die gesamten westlichen Wiesen überlassen.«
    Mrs. Hempstock nickte langsam. »Hempstock hätte bestimmt nichts dagegen, unsere Daisy glücklich zu sehen. Sicherlich würde er dem Mädchen eine Schafherde mitgeben.« Die Schafe der Hempstocks waren bekanntermaßen die besten der Umgebung: Sie hatten einen dicken Pelz, waren (für Schafe) recht intelligent und wiesen schön geschwungene Hörner und harte Hufe auf. Mrs. Hempstock und Mrs. Thorn nippten ihren Tee. Und so wurde die Sache geregelt.
    Im Juni heirateten Dunstan Thorn und Daisy Hempstock. Auch wenn der Bräutigam etwas geistesabwesend schien, war zumindest die Braut so strahlend und schön, wie es sich gehört.
    Ihre Väter diskutierten die Pläne für das Farmhaus, das sie für die Frischvermählten auf der westlichen Wiese bauen wollten. Die Mütter waren einhellig der Meinung, daß Daisy wunderhübsch aussah. Allerdings bedauerten sie es, daß Dunstan sie daran gehindert hatte, das Schneeglöckchen, das er ihr beim Markt Ende April geschenkt hatte, am Brautkleid zu tragen.
    Und hier verlassen wir die beiden in einem Wirbel von vielfarbigen Rosenblättern – nur soviel sei noch erwähnt…
    Das Paar lebte in Dunstans Hütte, bis sein kleines Farmhaus fertiggestellt war, und die beiden waren sicherlich einigermaßen glücklich; mit den täglichen Pflichten der Schafzucht, dem Hüten und Scheren und Füttern, verschwand allmählich auch der ferne Blick aus Dunstans Augen.
    Zuerst kam der Herbst, dann der Winter. Ende Februar, in der Lammsaison, als die Welt kalt war und ein eisiger Wind über die Moore und durch die Wälder heulte, als frostiger Regen in ständig wiederkehrenden Schauern aus bleiernen Wolken fiel, wurde um sechs Uhr abends, nachdem die Sonne untergegangen und der Himmel dunkel geworden war, ein Weidenkörbchen durch die Öffnung in der Mauer geschoben. Zuerst bemerkten die Wachen auf beiden Seiten des Durchgang nichts. Schließlich blickten sie in die entgegengesetzte Richtung, es war dunkel und feucht, so daß sie genug damit zu tun hatten, mit den Füßen zu stampfen und voller Sehnsucht zu den Lichtern des Dorfs zu starren.
    Doch dann erscholl ein hoher, durchdringender Klageschrei.
    Die Wachen sahen sich um und entdeckten den Korb zu ihren Füßen. In ihm lag ein kleines Bündel, ein Bündel aus geölten Seidentüchern und wollenen Decken, aus denen ein rotes Gesichtchen hervorschaute, mit zusammengekniffenen Äuglein und einem weit aufgesperrten, lauthals Hunger äußernden Mund.
    An der Decke des Babys war

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