Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
verletzte er sich den Arm, weil er vor Mr. Thomas Foresters Haus von einem Apfelbaum stürzte, genauer gesagt von dem Apfelbaum vor Miss Victoria Foresters Schlafzimmer. Zu seinem eigenen Leidwesen hatte Tristran lediglich einen kurzen, rosarot schimmernden, jedoch äußerst faszinierenden Blick auf Victoria erhascht. Das Mädchen war so alt wie seine Schwester und ohne Zweifel das schönste Mädchen im Umkreis von hundert Meilen.
    Als Victoria siebzehn war – und Tristran ebenfalls –, war Tristran sicher, daß es höchstwahrscheinlich auf den ganzen Britischen Inseln, wenn nicht sogar der ganzen Welt, kein schöneres Mädchen gab, und er hätte seine Überzeugung jederzeit auch unter Einsatz körperlicher Gewalt gegen Andersdenkende verteidigt. Allerdings hätte man in Wall wohl kaum jemanden gefunden, der ihm in dieser Sache widersprach, denn Victoria verdrehte vielen Männern den Kopf und brach vermutlich manch einem das Herz.
    Sie hatte die grauen Augen und das herzförmige Gesicht ihrer Mutter und die kastanienbraunen Locken ihres Vaters. Ihre Lippen waren rot, der Mund makellos geformt; ihre Wangen erröteten lieblich, wenn sie sprach. Sie hatte eine helle Haut und war absolut entzückend. Als sie sechzehn war, hatte sie sich heftig mit ihrer Mutter gestritten, denn sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, im Wirtshaus Zur siebenten Elster als Bedienungshilfe zu arbeiten. »Ich habe mit Mr. Bromios gesprochen«, erklärte sie ihrer Mutter. »Er hat nichts dagegen einzuwenden.«
    »Mr. Bromios’ Meinung interessiert mich nicht«, erwiderte ihre Mutter, die ehemalige Bridget Comfrey. »Auf alle Fälle ist das kein angemessener Beruf für eine junge Dame.«
    Fasziniert verfolgte das Dorf Wall die Auseinandersetzung, und jeder fragte sich, wer von beiden sich durchsetzen würde. Kein vernünftiger Mensch machte sich Bridget Comfrey zur Feindin, denn sie hatte ein Mundwerk, das, wie man im Dorf sagte, die Farbe von einem Scheunentor ätzen und die Rinde von einer Eiche schälen konnte. Im Dorf gab es niemanden, der Bridget Forester absichtlich verärgerte, und manche meinten sogar, eher würde man die Mauer zum Laufen bringen, als daß Bridget Comfrey sich umstimmen ließe.
    Victoria Forester jedoch war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen, und wenn alles andere scheiterte, konnte sie immer noch an ihren Vater appellieren, der sich stets auf ihre Seite schlug. Aber diesmal erlebte Victoria eine Überraschung, denn ihr Vater stellte sich hinter ihre Mutter und vertrat wie diese die Meinung, es sei unter der Würde einer wohlerzogenen jungen Dame, an der Bar der Elster zu arbeiten. Thomas Forester sprach ein Machtwort, und damit war die Sache vom Tisch.
    Jeder Junge im Dorf war in Victoria Forester verliebt, und selbst manch gesetzter, glücklich verheirateter Gentleman mit grauen Sprenkeln im Bart musterte sie mit wohlwollendem Interesse, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Dann verwandelte er sich für ein paar Augenblicke wieder in einen jungen Mann im Frühling seines Lebens und setzte seinen Weg mit federnden, beschwingten Schritten fort.
    »Es heißt, sogar Mister Monday gehört zu deinen Verehrern«, sagte Louisa Thorn eines schönen Nachmittags im Mai unter den Apfelbäumen.
    Fünf weitere Mädchen saßen unter oder in den Ästen des ältesten Apfelbaums, dessen dicker Stamm sich gut zum Anlehnen eignete. Sooft der Maiwind blies, schwebten rosa Blüten herab wie Schneeflocken und ließen sich auf Haar und Röcken der Mädchen nieder, während die Nachmittagssonne, die durch die Blätter schien, die Umgebung mit grünen, silbernen und goldenen Sprenkeln übersäte.
    »Mister Monday«, meinte Victoria Forester verächtlich, »ist mindestens fünfundvierzig.« Sie verzog das Gesicht, um zu verdeutlichen, wie alt jemand mit fünfundvierzig Jahren aus der Perspektive einer Siebzehnjährigen ist.
    »Außerdem war er auch schon verheiratet«, warf Louisas Cousine Cecilia Hempstock ein. »Ich würde keinen Mann heiraten wollen, der schon mal verheiratet war. Das ist ja, als würde jemand anderes mein eigenes Pony zureiten«, fügte sie hinzu.
    »Ich finde, genau das ist der einzige Vorteil eines Witwers«, entgegnete Amelia Robinson. »Daß eine andere schon die Ecken und Kanten abgeschliffen, ihn handzahm gemacht hat, wenn man so will. Außerdem könnte ich mir vorstellen, daß er in seinem gesetzten Alter bestimmte Gelüste ausgelebt und befriedigt hat, was einem sicherlich so manche Demütigung

Weitere Kostenlose Bücher