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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Armreif übers Handgelenk, eine kleine Schlange, die den Schwanz im Maul hielt.
    »Ein Stern«, sagte eine der Schwestern.
    »Ein Stern«, echote die zweite.
    »Genau«, bestätigte die Hexenkönigin und steckte sich ein silbernes Diadem ins Haar. »Der erste seit zweihundert Jahren. Und ich werde ihn uns zurückholen.« Mit ihrer tiefroten Zunge fuhr sie sich über die roten Lippen.
    »Ein Stern, der vom Himmel gefallen ist«, sagte sie.
     
     
    * * *
     
    Es war Nacht auf der Lichtung neben dem Teich, und am Himmel glitzerten unzählige Sterne.
    Glühwürmchen schimmerten zwischen den Blättern der Ulmen, im Farn und in den Haselnußbüschen, flackerten wie die Lichter ferner, fremder Städte. Im Bach, der den Teich speiste, planschte ein Otter. Eine Hermelinfamilie näherte sich auf gewundenen Pfaden dem Wasser, um zu trinken. Eine Feldmaus fand eine heruntergefallene Haselnuß und begann mit ihren scharfen, stets nachwachsenden Nagezähnen in die harte Schale zu beißen, nicht etwa weil sie Hunger hatte, sondern weil sie ein verzauberter Prinz war, der seine ehemalige Gestalt erst dann wieder annehmen konnte, wenn er die Nuß der Weisheit aß. Doch die Aufregung machte die Maus unvorsichtig, und nur der Schatten, der das Mondlicht verdunkelte, warnte sie vor einer herabstoßenden riesigen Graueule, die sie mit ihren scharfen Fängen packte, um anschließend wieder in die Nacht hinauszuschweben.
    Die Maus ließ die Nuß fallen; die Nuß fiel in den Bach und wurde fortgetragen, bis ein Lachs sie verschluckte. Die Eule verspeiste die Maus in ein paar gierigen Bissen, bis ihr nur noch der Schwanz aus dem Schnabel hing, ungefähr so lang wie ein Schuhband. Etwas schnaufte und grunzte im Dickicht – ein Dachs, dachte die Eule (die selbst unter einem Zauberbann stand und ihre rechtmäßige Gestalt nur dann wiedererlangen konnte, wenn sie eine Maus verschlang, welche zuvor die Nuß der Weisheit gefressen hatte), oder vielleicht auch ein kleiner Bär.
    Die Blätter raschelten, das Wasser rieselte, und dann war die Lichtung plötzlich erfüllt von einem Licht, das von oben herabströmte, ein reines, weißes Licht, das heller und immer heller wurde. Die Eule sah, wie es auf dem Wasser reflektierte, ein funkelndes, gleißendes Ding aus purem Licht, so hell, daß sie die Flügel schwang und lieber in einen anderen Teil des Waldes flog. Die wilden Tiere blickten entsetzt um sich.
    Zuerst war das Licht am Himmel etwa so groß wie der Mond, doch dann schien es größer zu werden, unendlich viel größer. Die Lichtung erzitterte und bebte, alle Kreaturen hielten den Atem an, die Glühwürmchen leuchteten heller, als sie das jemals getan hatten, denn alle waren fest davon überzeugt, daß dies endlich die Liebe war, aber vergeblich…
    Und dann…
    Dann ertönte ein Knall, scharf wie ein Schuß, und das Licht, das die Lichtung erfüllt hatte, war erloschen.
    Oder zumindest beinahe. Mitten im Haselstrauch pulsierte ein schwaches Glühen, als glitzerte dort eine winzige Sternenwolke.
    Eine hohe, klare, weibliche Stimme sagte: »Autsch«, und dann, ganz leise: »Scheiße«, und dann noch einmal »Autsch.«
    Schließlich aber sagte sie nichts mehr, und es herrschte Stille auf der Lichtung.

KAPITEL 4
     
    Komm ich dort hin bei Kerzenschein?
     
     
     
    Mit jedem Schritt rückte der Oktober ein Stück weiter weg; Tristran hatte das Gefühl, mitten in den Sommer hinein zu wandern. Durch den Wald führte ein Pfad, der auf einer Seite von einer hohen Hecke gesäumt war; diesem Weg folgte er. Hoch über ihm schimmerten die Sterne, und der Erntemond schien auf ihn herab, goldgelb wie reifes Korn. Im Mondschein sah Tristran wilde Rosen an der Hecke.
    Allmählich wurde er schläfrig. Eine Zeitlang kämpfte er dagegen an, doch schließlich zog er den Mantel aus, stellte die Tasche ab – eine große Ledertasche von der Art, die später als Gladstone Bag bekannt wurde –, legte den Kopf darauf und deckte sich mit dem Mantel zu.
    Er blickte zu den Sternen empor, und es kam ihm vor, als tanzten sie, getragen und anmutig, einen Tanz von unendlicher Vielfalt. Er stellte sich die Gesichter der Sterne vor: Blaß waren sie, und sie lächelten, als hätten sie so lange den Freuden und Mühen der Menschen unten auf der Erde zugesehen, daß sie sich nur noch amüsieren konnten, wenn sich wieder einmal irgendein kleines unbedeutendes menschliches Wesen für das Zentrum seiner Welt hielt, wie wir das alle tun.
    Tristran schlief ein und träumte, er

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