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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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aufgebrochen und kam schneller voran, als er laufen konnte. Er folgte ihr im hellen Mondschein. Im Innern fühlte er sich benommen und töricht, eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Scham und Bedauern bemächtigte sich seiner. Er hätte die Kette nicht lösen dürfen, er hätte das Mädchen an einen Baum binden oder es zwingen sollen, mit ihm ins Dorf zu kommen. Aber auch eine andere Stimme ließ sich vernehmen: Wenn er es vorhin nicht losgemacht hätte, wäre es ein anderes Mal geschehen – dann wäre es eben später weggelaufen.
    Er fragte sich, ob er das Sternmädchen jemals wiedersehen würde, und er strauchelte über Baumwurzeln, als der Weg ihn in einen alten Wald führte, immer tiefer und tiefer. Langsam verschwand das Mondlicht unter einem dichten Blätterdach, und nachdem er eine Weile vergeblich in der Finsternis herumgestolpert war, legte er sich unter einen Baum, schob die Tasche unter den Kopf, schloß die Augen und bemitleidete sich selbst, bis er endlich einschlief.
     
    * * *
    Auf dem felsigen Bergpaß auf dem Südhang von Mount Belly zügelte die Hexenkönigin ihr Ziegengefährt, hielt an und schnupperte in die kalte Luft.
    Über ihr am kalten Himmel hingen Myriaden von Sternen.
    Ihre grellroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das so wunderschön war, so strahlend, so rein und vollkommen glücklich, daß euch das Blut in den Adern gefroren wäre, hättet ihr es gesehen. »Dort«, sagte sie leise. »Sie kommt zu mir.«
    Und der Wind auf dem Gebirgspaß heulte triumphierend um sie her, als wollte er ihr antworten.
     
     
    * * *
     
    Primus saß neben der Glut seines Feuers und fröstelte unter seiner dicken schwarzen Robe. Einer der schwarzen Hengste wieherte und schnaubte, ob er träumte oder wach war, konnte er nicht ausmachen; nach einer Weile beruhigte sich das Pferd wieder. Primus’ Gesicht fühlte sich ungewohnt kalt an; er vermißte seinen Bart. Mit einem Stock schubste er eine Lehmkugel aus der Glut, spuckte in die Hände und brach die Lehmhülle behutsam auf. Sofort stieg ihm der süße Duft von Igelfleisch in die Nase, langsam in der Glut gebraten, während er geschlafen hatte.
    Gewissenhaft verzehrte er sein Frühstück, spuckte die winzigen Knochen in den Feuerkreis, nachdem er das letzte Restchen Fleisch von ihnen geknabbert hatte. Ein Stück Hartkäse bildete den Abschluß, und mit einem etwas nach Essig schmeckenden Weißwein spülte er sein Mahl hinunter.
    Dann wischte er sich die Hände an seiner Robe ab und warf die Runen, um den Verbleib des Topas’ zu ergründen, der die Herrschaft über die Bergdörfer und weitläufigen Herrschaftsgebiete von Stormhold garantierte. Verblüfft starrte er auf die kleinen viereckigen roten Granitplättchen. Dann sammelte er sie noch einmal ein, mischte sie in seinen langen, schmalen Händen, ließ sie auf den Boden fallen und staunte erneut. Schließlich spuckte er in die Glut, die verärgert aufzischte, schob die Steine zusammen und verstaute sie in dem Beutel an seinem Gürtel.
    »Er bewegt sich schneller, weiter weg«, brummte Primus vor sich hin.
    Zum Abschluß pißte er noch auf die Glut, denn er befand sich in der Wildnis, und da gab es Banditen und Kobolde und noch übleres Gesindel. Die wollte er nicht auf seine Anwesenheit aufmerksam machen. Anschließend spannte er die Pferde vor die Kutsche, schwang sich auf den Kutschbock und trieb die Tiere in Richtung Wald, nach Westen, zum Gebirge, das sich dahinter erhob.
     
     
    * * *
     
    Das Mädchen klammerte sich an den Hals des Einhorns, das ungestüm durch den dunklen Wald preschte.
    Hier zwischen den Bäumen war es zwar finster, doch das Einhorn schimmerte und war umgeben von einem matten Licht, und auch die Sternfrau leuchtete, als gingen viele kleine Strahlen von ihr aus. Und als sie so durch die Bäume brauste, erschien es dem fernen Beobachter vielleicht, als strahlte sie, mal schwächer, mal stärker, wie ein winziger Stern.

KAPITEL 6
     
    Was der Baum sagte
     
     
     
    Tristran Thorn träumte. Er saß auf einem Apfelbaum und spähte durch ein Fenster, hinter dem sich Victoria Forester gerade auszog. Als sie sich ihres Kleides entledigte und ein Petticoat zum Vorschein kam, spürte Tristran, wie der Ast unter ihm nachgab, und er taumelte im Mondlicht durch die Luft…
    … und fiel mitten auf den Mond.
    Und der Mond war eine Frau und sprach zu ihm: Bitte, wisperte die Mondfrau, mit einer Stimme, die Tristran ein bißchen an seine Mutter erinnerte, bitte beschütze sie.

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