Sternwanderer
In seinen schwarzen Augen funkelte es wild, sein Gang hatte etwas Unberechenbares an sich, etwas Gefährliches und Ungezähmtes. Andererseits spürte Tristran immer mehr, daß das Einhorn Mitgefühl für die Sternfrau empfand und ihr helfen wollte, auch wenn er dies nicht mit Worten hätte beschreiben können. Deshalb sagte er schließlich: »Sieh mal, ich weiß ja, daß du mit jedem Schritt meine Pläne durchkreuzen willst, aber wenn das Einhorn dazu bereit ist, würde es dich vielleicht ein Stückchen auf dem Rücken tragen.«
Die Sternfrau erwiderte nichts.
»Nun?«
Sie zuckte die Achseln.
Tristran wandte sich an das Einhorn und blickte ihm fest in die tiefschwarzen Augen. »Kannst du mich verstehen?« fragte er. Das Einhorn schwieg. Er hatte gehofft, es würde mit dem Kopf nicken oder mit dem Huf aufstampfen, wie er es einmal bei einem Dressurpferd auf dem Dorfanger gesehen hatte, als er noch klein war. Aber das Einhorn erwiderte nur stumm Tristrans Blick. »Trägst du die Dame? Bitte?«
Zwar sagte das Tier kein Wort, es nickte oder stampfte auch nicht, aber es ging zu der Sternfrau hinüber und kniete vor ihr nieder.
Tristran half der jungen Frau auf den Rücken des Einhorns. Mit beiden Händen griff sie in die zerzauste Mähne und streckte im Damensitz das gebrochene Bein von sich. Auf diese Weise kamen sie nun schneller voran.
Tristran trabte neben den beiden her; seine Tasche baumelte am einen Ende der Krücke, die er sich über die Schulter gelegt hatte. Für ihn war das Vorwärtskommen jetzt, da das Einhorn den Stern trug, mindestens ebenso beschwerlich wie zuvor. War er vorher gezwungen gewesen, langsam zu gehen und sich dem hinkenden Gehumpel des Sterns anzupassen, mußte er sich jetzt beeilen, um mit dem Einhorn Schritt zu halten, immer voller Sorge, daß er zu weit zurückfiel und die Kette, die ihn mit der Sternfrau verband, diese vom Rücken des Einhorns zerren könnte. Sein Magen knurrte beim Gehen, und ihm war aufs unangenehmste bewußt, wie hungrig er war. Bald dachte er nur noch ans Essen. Er bestand nur noch aus Hunger, fühlte sich, als würde sein Körper notdürftig zusammengehalten von Haut und Muskeln, und es war kein Ende abzusehen.
Schließlich geriet er ins Stolpern und merkte, daß er gleich hinfallen würde.
»Halt an, bitte!« japste er.
Das Einhorn verlangsamte seine Schritte und blieb stehen. Die Sternfrau blickte auf Tristran herab. Dann verzog sie das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Du solltest am besten auch aufsteigen«, sagte sie. »Wenn das Einhorn dich läßt. Sonst wirst du irgendwann in Ohnmacht fallen und mich mit auf die Erde zerren. Und wir müssen unbedingt irgendwo etwas zu essen für dich finden.«
Dankbar nickte Tristran.
Das Einhorn schien nichts gegen den Vorschlag zu haben und wartete geduldig, als Tristran auf seinen Rücken zu klettern versuchte. Doch er scheiterte ebenso, als hätte er eine glatte Felswand erklimmen wollen. Zu guter Letzt führte Tristran das Tier zu einer umgestürzten Buche, die vor einigen Jahren von einem Sturm oder einem schlechtgelaunten Riesen entwurzelt worden war. Dann kletterte er mit seiner Tasche und der Krücke auf den Stamm und von dort auf den Rücken des Einhorns.
»Auf der anderen Seite des Hügels liegt ein Dorf«, sagte Tristran. »Wahrscheinlich kriegen wir dort etwas zu essen.« Mit der freien Hand tätschelte er dem Einhorn die Flanken, und das Tier setzte sich in Bewegung. Tristran legte den Arm um die Taille der Sternfrau, um etwas Halt zu haben. Er fühlte den dünnen Seidenstoff ihres Kleides und darunter die dicke Kette mit dem Topas.
Auf dem Einhorn ritt es sich ganz anders als auf einem Pferd; das Einhorn bewegte sich nicht wie ein Pferd, sondern wilder und fremdartiger. Das Einhorn wartete, bis Tristran und die Sternfrau es sich auf seinem Rücken bequem gemacht hatten, dann nahm es langsam aber sicher Tempo auf.
Die Bäume sausten wie im Flug an ihnen vorüber. Der Stern beugte sich vor, die Finger in der Mähne des Einhorns vergraben; Tristran umklammerte die Flanken des Tieres mit den Knien – sein Hunger war vor lauter Angst vergessen – und betete nur noch, daß er nicht von einem Ast heruntergefegt wurde, der ihnen zufällig in die Quere kam. Doch bald schon begann er den Ritt zu genießen. Für jene, denen es vergönnt ist, auf einem Einhorn zu reiten, ist es ein einmaliges Erlebnis – aufregend, berauschend, wunderbar.
Die Sonne ging unter, als sie das Dorf erreichten. Auf einer leicht
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