Sternwanderer
hügeligen Wiese, unter einer Eiche, blieb das Einhorn stehen und weigerte sich weiterzugehen. Tristran stieg ab und landete mit einem dumpfen Schlag im Gras. Sein Allerwertester tat weh, aber da die Sternfrau ohne zu klagen auf ihn herunterblickte, wagte er nicht, ihn zu reiben.
»Hast du denn keinen Hunger?« fragte er sie.
Sie antwortete nicht.
»Ich bin kurz vor dem Verhungern«, erklärte er. »Ich weiß nicht, wovon du dich ernährst – ob Sterne überhaupt essen und falls ja, was.« Fragend blickte er sie an. Sie starrte schweigend weiter auf ihn herab, aber dann füllten sich ihre blauen Augen plötzlich mit Tränen. Sie wischte sich übers Gesicht und hinterließ dabei eine Schmutzspur auf ihren Wangen.
»Wir essen nur Dunkelheit«, antwortete sie Tristran, »und wir trinken Licht. Deshalb bin ich nicht huh-hungrig. Ich habe Angst und fühle mich allein und eh-elend und wie eine Gefangene, aber ich bin nicht huh-hungrig.«
»Wein doch nicht«, sagte Tristran. »Sieh mal, ich gehe jetzt ins Dorf und hole was zu essen. Du wartest hier. Das Einhorn wird dich beschützen, falls jemand kommt.« Damit streckte er die Arme aus und hob die Sternfrau behutsam vom Rücken des Einhorns. Das Tier schüttelte die Mähne, dann begann es zufrieden auf der Wiese zu grasen.
Der Stern schniefte. »Hier warten?« fragte sie und hielt die Kette hoch.
»Oh«, sagte Tristran. »Gib mir deine Hand.«
Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er fummelte an der Kette herum, aber sie wollte nicht aufgehen. »Hmmm«, brummte er, versuchte es an seinem eigenen Handgelenk, aber auch da blieb die Kette fest. »Anscheinend bin ich genauso an dich gefesselt wie du an mich«, stellte er fest.
Die Sternfrau warf die Haare zurück, schloß die Augen und seufzte tief. Dann schlug sie die Augen wieder auf und sagte mit gefaßter Stimme: »Vielleicht gibt es ein Zauberwort oder so etwas.«
»Ich kenne keine Zauberworte«, sagte Tristran. Er hielt die Kette empor, die im Licht der untergehenden Sonne rot und purpurn glänzte. »Bitte?« sagte er zögernd. Ein Zittern durchlief die Kette, und seine Hand war frei.
»Siehst du«, sagte er und reichte der Sternfrau das andere Ende der ehemaligen Fessel. »Ich werde versuchen, nicht zu lange wegzubleiben. Und wenn einer vom kleinen Volk dir seine albernen Lieder vorsingt, dann wirf um Himmels willen nicht deine Krücke nach ihm, sonst stiehlt er sie bloß.«
»In Ordnung«, antwortete sie.
»Ich vertraue auf deine Sternenehre, daß du nicht wegläufst«, fügte er hinzu.
Sie legte die Hand auf ihr geschientes Bein. »Ich werde noch einige Zeit nicht laufen können«, entgegnete sie spitz. Und damit mußte Tristran sich zufriedengeben.
Er wanderte die halbe Meile bis zum Dorf. Es gab kein Gasthaus, da die Ansiedlung zu weit ab von den großen Straßen lag, so daß keine Reisenden vorbeikamen, aber die stämmige alte Frau, die ihm dies erklärte, bestand darauf, daß er sie in ihre Hütte begleitete, wo sie ihm eine Schüssel voll Gerstenbrei mit Karotten vorsetzte und dazu einen kleinen Krug Bier. Tristran tauschte sein Kambriktaschentuch gegen eine Flasche Holunderbeerlikör, ein Rad grünen Käse und einige ihm unbekannte Früchte ein: Sie waren weich und pelzig wie Aprikosen, aber lilafarben wie Trauben, und sie rochen ein bißchen wie reife Birnen. Außerdem überließ ihm die Frau einen kleinen Ballen Heu für das Einhorn.
Schließlich wanderte Tristran zurück zu der Wiese, wo er das Mädchen und das Einhorn zurückgelassen hatte. Unterwegs verzehrte er eine Frucht, die saftig, knackig und sehr süß schmeckte. Ob der Stern wohl auch eine versuchen wollte, und falls ja, ob sie ihr schmecken würde? Hoffentlich freute sie sich über das, was er mitbrachte.
Als Tristran zu der Stelle kam, an der er die Sternfrau und das Einhorn zurückgelassen hatte, lag sie verlassen da.
Zuerst überlegte er, ob er sich vielleicht im Mondlicht verirrt hatte. Aber nein, es war die gleiche Eiche, die, unter der die Sternfrau gesessen hatte.
»Hallo?« rief er. Glühwürmchen und Leuchtkäfer funkelten grün und gelb in den Hecken und in den Ästen der Bäume. Als er keine Antwort bekam, machte sich plötzlich ein äußerst unangenehmes, dummes Gefühl in Tristrans Magen breit. »Hallo?« rief er abermals. Doch dann verstummte er, denn es war sowieso niemand da, der ihm hätte antworten können.
Wütend ließ er den Heuballen fallen und trat mit dem Fuß dagegen.
Sie war in südwestliche Richtung
Weitere Kostenlose Bücher