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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Natürlich bin ich sicher, daß du ein großartiger Schutz bist, wenn es regnet, aber das tut es ja momentan nicht…«
    Die Blätter raschelten. »Warum erzählst du mir nicht einfach deine bisherige Geschichte«, meinte der Baum, »und läßt mich dann beurteilen, ob ich dir helfen kann oder nicht.«
    Zuerst wehrte sich Tristran gegen den Vorschlag. Er fühlte, wie sich der Stern immer weiter von ihm entfernte, mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Einhorns, und wenn er für etwas gar keine Zeit hatte, dann für einen Bericht über seine bisherigen Abenteuer. Doch dann fiel ihm ein, daß jeder Fortschritt, den er auf seiner Reise bisher gemacht hatte, dadurch zustande gekommen war, daß er die Hilfe angenommen hatte, die ihm angeboten worden war. So setzte er sich denn auf den Waldboden und erzählte der Blutbuche alles, was ihm in den Kopf kam: von seiner Liebe zu Victoria Forester, einer Liebe, die so wahr und so rein war; von seinem Versprechen, ihr den Stern zu bringen, und zwar nicht irgendeinen Stern, sondern genau den, der vor ihrer beider Augen auf die Erde gefallen war und den sie auf dem Gipfel des Dyties Hill beobachtet hatten; von seiner Reise ins Feenland. Er erzählte von seiner Wanderung, von dem kleinen haarigen Mann und dem kleinen Volk, das ihm seinen Bowler gestohlen hatte; er erzählte von der Zauberkerze, wie er die Meilen zu dem Tal, in dem er den Stern gefunden hatte, in Windeseile durchmessen hatte, vom Löwen und vom Einhorn und wie er den Stern verloren hatte.
    Als er seine Geschichte zu Ende gebracht hatte, herrschte Schweigen. Die Blätter der Buche zitterten leise wie unter einem Windhauch, dann heftiger, als braute sich ein Sturm zusammen. Und dann formten sie eine wilde, tiefe Stimme, die sagte: »Wenn du sie gefesselt gelassen hättest und sie den Ketten entflohen wäre, könnte mich keine Macht auf Erden und im Himmel dazu bringen, dir zu helfen, nicht einmal, wenn der Große Pan oder Lady Sylvia höchstpersönlich mich darum anflehen würden. Aber du hast sie freigelassen, und deshalb werde ich dir helfen.«
    »Danke«, sagte Tristran.
    »Ich werde dir drei Wahrheiten verraten. Zwei davon hier und jetzt, die dritte dann, wenn du sie am dringendsten brauchst. Den Zeitpunkt mußt du selbst bestimmen.
    Erstens: Der Stern schwebt in höchster Gefahr. Was in der Waldesmitte geschieht, ist bald auch an den äußersten Grenzen bekannt, und die Bäume sprechen mit dem Wind, und der Wind trägt die Worte weiter zum nächsten Wald, zu dem er gelangt. Es sind Kräfte am Werk, die wollen dem Sternmädchen Böses und noch Schlimmeres. Du mußt es finden und beschützen.
    Zweitens: Es gibt einen Pfad durch den Wald, dort hinten bei der Tanne, und ich könnte dir Dinge über diese Tanne erzählen, die einem Felsklotz die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. In ein paar Minuten wird eine Kutsche dort auftauchen. Spute dich, dann wirst du sie nicht verpassen.
    Drittens: Streck die Hände aus.«
    Tristran tat, wie ihm geheißen. Von hoch oben segelte langsam ein Blutbuchenblatt herab, schwebend, tanzend, taumelnd. Es landete genau auf seiner rechten Handfläche.
    »Hier«, sagte der Baum. »Paß gut darauf auf. Und hör auf das Blatt, wenn du es am dringendsten brauchst. Nun mach, die Kutsche ist beinahe angekommen.«
    Rasch hob Tristran sein Gepäck auf und rannte los; unterwegs verstaute er das Blatt in der Tasche seiner Tunika. Er hörte Hufgetrappel, das durchs Tal immer näher kam. Er wußte, daß er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, verzweifelte fast, rannte aber dennoch schneller, bis er nur noch sein Herz in der Brust und in den Ohren pochen hörte und das Zischen seines Atems, wenn er die Luft in die Lungen einsog. So stürmte er durchs Farnkraut und erreichte den Pfad tatsächlich im gleichen Augenblick, als die Kutsche heranbrauste.
    Sie war schwarz und wurde von vier nachtschwarzen Pferden gezogen; auf dem Kutschbock saß ein bleicher Mann in einer langen schwarzen Robe. Die Kutsche war noch zwanzig Schritte von Tristran entfernt; er stand da, atemlos, und versuchte zu rufen. Aber seine Kehle war ausgetrocknet, er bekam keine Luft, und seine Stimme war bestenfalls ein heiseres Flüstern. Was ein Schrei hätte werden sollen, klang wie ein Keuchen.
    Die Kutsche fuhr an ihm vorüber, ohne das Tempo zu drosseln.
    Tristran saß auf dem Boden und japste. Doch die Angst um den Stern trieb ihn weiter; er stand wieder auf und lief so schnell er konnte den Waldweg entlang.

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