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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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mir das Leben gerettet«, sagte sie schließlich. »Stimmt’s?«
    »Vermutlich schon, ja.«
    »Ich hasse dich«, sagte sie. »Ich habe dich schon vorher gehaßt, aber jetzt hasse ich dich noch viel mehr.«
    Tristran bewegte seine verbrannte Hand vorsichtig in der kühlen Wolke. »Aus einem bestimmten Grund?«
    »Weil«, begann sie mit angespannter Stimme, »weil du jetzt, nachdem du mir das Leben gerettet hast, nach dem Gesetz meines Volkes für mich verantwortlich bist. Wohin du auch gehst, ich muß dir folgen.«
    »Oh«, meinte Tristran, »das ist doch nicht so schlimm, oder?«
    »Ich würde meine Tage lieber an einen gemeinen Wolf oder ein stinkendes Schwein oder einen Moorgoblin gekettet verbringen«, erklärte sie rundheraus.
    »Ich bin aber ehrlich nicht so übel«, sagte er, »wenn du mich erst besser kennst. Sieh mal, die Sache mit dem Anketten tut mir leid. Vielleicht könnten wir ja noch mal von vorn anfangen und so tun, als wäre das alles nie passiert. Also, mein Name ist Tristran Thorn, es freut mich, Euch kennenzulernen.« Damit streckte er ihr seine nicht verbrannte Hand entgegen.
    »Mondmutter, bewahre mich!« rief die Sternfrau. »Ich würde eher die Hand eines…«
    »Ja sicher, ich weiß«, unterbrach Tristran sie rasch, denn er legte keinen Wert darauf zu erfahren, welch wenig schmeichelhaften Vergleiche er diesmal über sich ergehen lassen mußte. »Ich habe gesagt, es tut mir leid. Fangen wir von vorn an. Ich bin Tristran Thorn. Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.«
    Sie seufzte.
    Die Luft war dünn und kalt hier oben, aber die Sonne schien warm, und die Wolkenformen um sie herum erinnerten Tristran an eine Phantasiestadt oder einen erdfremden Ort. Weit, weit unten konnten sie das Feenland sehen: Wie das Sonnenlicht jeden winzigen Baum hervorhob und jeden Fluß in eine silberne Schlange verzauberte, die sich schimmernd durch die Landschaft wand.
    »Nun?« fragte Tristran.
    »Na gut«, meinte die Sternfrau. »Es ist schon irgendwie komisch, nicht wahr? Wo du hingehst, muß auch ich hingehen. Selbst wenn es mich das Leben kostet.« Sie ließ die Hand in der Wolke herumwirbeln und verursachte kleine Wellen im Nebel. Dann berührte sie für einen kurzen Moment Tristrans Hand. »Meine Schwestern haben mich Yvaine genannt«, erklärte sie ihm. »Denn ich war ein Abendstern.«
    »Sieh uns nur an«, sagte Tristran. »Ein hübsches Paar. Du mit deinem gebrochenen Bein, ich mit meiner Hand…«
    »Zeig mir deine Hand.«
    Vorsichtig zog er sie aus der kühlenden Wolke: Die Hand war rot, überall, wo die Flammen an ihr geleckt hatten, waren dicke Brandblasen.
    »Tut es weh?« fragte sie.
    »Ja«, antwortete er. »Ehrlich gesagt, sogar sehr.«
    »Gut«, meinte Yvaine.
    »Wenn meine Hand nicht verbrannt wäre, würdest du wahrscheinlich jetzt nicht mehr leben«, gab er zurück. Ein wenig beschämt schlug sie die Augen nieder. »Weißt du«, fuhr er fort und wechselte das Thema, »ich habe meine Tasche im Haus der wahnsinnigen Wirtin gelassen. Jetzt stehen wir da und haben nichts mehr außer den Kleidern, die wir am Leib tragen.«
    »Nein, wir sitzen«, verbesserte ihn die Sternfrau.
    »Es gibt hier nichts zu essen, kein Wasser, wir sind ungefähr eine halbe Meile über der Erde, ohne eine Möglichkeit, hinunterzukommen oder zu bestimmen, wohin die Wolke segelt. Und wir sind beide verletzt. Habe ich irgend etwas ausgelassen?«
    »Du hast vergessen darauf hinzuweisen, daß Wolken sich gelegentlich in Nichts auflösen und einfach verschwinden«, sagte Yvaine. »Das tun sie nämlich. Ich hab’s selbst gesehen. Noch einen Sturz würde ich nicht überleben.«
    Tristran zuckte die Achseln. »Nun«, meinte er, »dann ist unser Schicksal vermutlich besiegelt. Aber wir könnten uns ebensogut ein wenig umsehen, wo wir schon mal hier oben sind.«
    Er half Yvaine auf die Beine, und ungeschickt machten sie beide ein paar Stolperschritte über die Wolke. Doch Yvaine setzte sich gleich wieder hin. »Das bringt nichts«, sagte sie. »Geh du und schau dich um. Ich warte hier auf dich.«
    »Versprochen?« fragte er. »Diesmal läufst du nicht weg?«
    »Ich schwöre. Bei meiner Mutter Mond«, meinte Yvaine traurig. »Du hast mir das Leben gerettet.«
    Und damit mußte Tristran sich vorerst zufriedengeben.
     
     
    * * *
     
    Inzwischen war ihr Haar fast gänzlich ergraut, ihr Gesicht schlaff, mit Falten am Hals und um die Augen und Mundwinkel. Die Haut war farblos, das Kleid jedoch immer noch knallrot, aber mit

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