Sternwanderer
»Ich glaube gar, die hier ist noch schöner als die Blume, die das verflixte Balg vor fast zwanzig Jahren weggegeben hat. Nun, verrate mir, junger Mann«, fuhr sie fort und musterte Tristran mit ihren scharfen alten Augen, »weißt du überhaupt, was du da im Knopfloch getragen hast?«
»Eine Blume. Eine Glasblume.«
Da lachte die alte Frau plötzlich so laut los, daß Tristran schon glaubte, sie würde ersticken. »Das ist ein gefrorener Zauberspruch«, sagte sie endlich. »Ein Instrument der Macht. In den richtigen Händen kann so ein Ding Wunder und Mirakel bewirken. Sieh her.« Sie hielt das Schneeglöckchen über ihren Kopf und senkte es langsam, bis es Tristrans Stirn berührte.
Einen Herzschlag lang fühlte er sich äußerst sonderbar, als flösse dicker schwarzer Sirup anstelle von Blut durch seine Adern; dann veränderte sich die Welt um ihn herum. Alles wurde riesig und ragte hoch über ihm auf. Plötzlich war die alte Frau eine Riesin, und er sah alles verschwommen und durcheinander.
Zwei riesige Hände näherten sich ihm und hoben ihn vorsichtig auf. »Der Wagen ist ja nicht der größte«, sagte Madame Semele langsam und dröhnend. »Und ich werde meinen Schwur buchstabengenau einhalten, denn es wird dir kein Leid geschehen, und du wirst Kost und Logis bekommen auf der Reise nach Wall.« Damit steckte sie die Haselmaus in ihre Schürzentasche und kletterte zurück auf den Fahrersitz.
»Und was wollt Ihr mit mir machen?« fragte Yvaine, war aber nicht sonderlich überrascht, als die Hexe nicht antwortete. So folgte sie der Alten unaufgefordert ins dunkle Wageninnere, das nur aus einem einzigen Raum bestand. An einer Wand stand ein langer Kasten aus Leder und Kiefernholz mit hundert Fächern, und in eins davon, das mit weicher Disteldaune ausgepolstert war, legte sie das Schneeglöckchen. An der anderen Wand war ein kleines Bett, darüber ein Fenster, daneben ein großer Schrank.
Madame Semele bückte sich und holte einen hölzernen Käfig unter dem Bett hervor, nahm die blinzelnde Haselmaus aus der Tasche und setzte sie hinein. Dann holte sie eine Handvoll Nüsse und Beeren und Samen aus einer Holzschüssel und streute sie in den Käfig, den sie anschließend an einer Kette in die Mitte des Wohnwagens hängte.
»So, da haben wir’s – Kost und Logis«, meinte sie zufrieden.
Yvaine hatte sich alles interessiert von ihrem Platz aus auf dem Bett der alten Frau angesehen. »Wäre es angemessen«, fragte sie höflich, »wenn ich aufgrund Eures Verhaltens – weder habt Ihr mich angesehen, Eure Augen sind einfach über mich hinweggeglitten, noch habt ihr ein Wort mit mir gesprochen oder mich mit einer ähnlichen Verwandlung bedacht wie meinen Gefährten – den Schluß ziehe, daß Ihr mich weder sehen noch hören könnt?«
Die Hexe antwortete nicht, sondern setzte sich auf den Fahrersitz und nahm die Zügel in die Hand. Der exotische Vogel hüpfte neben sie und zwitscherte einmal kurz und neugierig.
»Natürlich habe ich meinen Schwur gehalten – auf den Buchstaben genau«, sagte die Frau, als würde sie dem Vogel antworten. »Er wird auf der Marktwiese wieder zurückverwandelt, also bevor er nach Wall kommt. Und nachdem ich ihn zurückverwandelt habe, werde ich auch dir die menschliche Gestalt zurückgeben, denn ich muß immer noch einen besseren Diener finden als dich, du Schlampe. Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn er den lieben langen Tag hier herumgeschnüffelt und Fragen gestellt hätte, deshalb mußte ich ihm diesen Handel aufdrängen.« Sie schlang die Arme um sich und schaukelte langsam vor und zurück. »Oh, wer mich übers Ohr hauen will, muß schon verdammt früh aufstehen. Und ich glaube wirklich, die Blume dieses Bauerntölpels ist noch schöner als die, um die du mich gebracht hast vor all den Jahren.«
Wieder schnalzte sie mit der Zunge, schüttelte die Zügel, und die Maultiere setzten sich in Bewegung.
Während die Hexe so durch den Wald fuhr, ruhte Yvaine sich auf dem staubigen Bett aus. Der Wohnwagen ruckelte und zuckelte. Als er anhielt, erwachte sie und stand auf. Solange die Hexe schlief, setzte Yvaine sich aufs Dach und blickte zu den Sternen empor. Hin und wieder kam der Vogel der Hexe zu ihr, und sie streichelte ihn und spielte mit ihm, denn es tat gut, jemanden zu haben, der ihre Existenz zur Kenntnis nahm. Aber sobald die Hexe wieder auftauchte, strafte auch der Vogel Yvaine mit Nichtachtung.
Yvaine kümmerte sich auch um die Haselmaus, die die meiste Zeit des
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