Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
Tages verschlief, zusammengerollt, den Kopf zwischen den Pfoten. Wenn die Hexe unterwegs war, um Feuerholz zu sammeln oder Wasser zu holen, öffnete Yvaine den Käfig, streichelte die Maus, sprach mit ihr, und ein paarmal sang sie ihr etwas vor, obwohl sie nicht sicher war, ob etwas von Tristran in der Haselmaus geblieben war. Das Tier starrte sie mit ruhigen, verschlafenen Augen an, die aussahen wie kleine schwarze Tintenkleckse; sein Fell war weicher als Daunen.
    Nun, da sie nicht mehr zu Fuß unterwegs war, schmerzte ihre Hüfte nicht mehr, und auch die Füßen taten nicht mehr so weh. Yvaine wußte, daß sie für immer hinken würde, denn Tristran war kein Arzt, der gebrochene Knochen richtig zusammenfügen konnte; dennoch hatte er sein Bestes getan, dieser Ansicht war auch Meggot gewesen.
    Wenn sie jemandem begegneten, was nicht oft geschah, versteckte sich die Sternfrau so gut es ging. Aber die Hexe war blind und taub für Yvaines Anwesenheit, selbst wenn diese sich unter ihrer Nase mit jemandem unterhielt – oder wenn jemand, wie es ein Holzfäller einmal tat, auf sie deutete und sich nach ihrer Herkunft erkundigte. Offenbar konnte die Hexe nicht einmal hören, wenn jemand von der Sternfrau sprach.
    So verstrichen die Wochen im Wohnwagen der Hexe, klappernd und ratternd, für die Hexe, den Vogel, die Haselmaus und den gefallenen Stern.

KAPITEL 9
     
    Das sich vornehmlich mit den Ereignissen
    in Diggory’s Dyke befaßt
     
     
     
    Diggory’s Dyke war ein tiefer Einschnitt in einer grünen Hochfläche, auf der eine dünne Grasschicht und rötliche Erde den Kalk bedeckten und es kaum genug Boden gab, auf dem Bäume gedeihen konnten. Aus der Ferne sah der Graben aus wie ein klaffender weißer Riß in einem grünen Samtbrett. Der Legende zufolge war Diggory’s Dyke in einem Tag und einer Nacht von einem gewissen Diggory ausgehoben worden, mit einem Spaten, der einst ein Schwert gewesen war, bevor Wayland Smith es auf seiner Reise von Wall ins Feenland geschmolzen und geschmiedet hatte. Manche behaupteten, dieses Schwert wäre einmal Flamberge gewesen, andere meinten, es handle sich um das Schwert Balmung; aber niemand wußte genau, wer Diggory eigentlich gewesen war, und es bestand durchaus die Möglichkeit, daß die ganze Geschichte frei erfunden war. Jedenfalls führte der Weg nach Wall durch Diggory’s Dyke, und jeder, ganz gleich, ob er zu Fuß oder mit einem Fahrzeug unterwegs war, mußte die Schlucht durchqueren, wo die hohen Kalksteinwände aufragten und die Hügel sich erhoben wie grüne Kissen in dem Bett eines Riesen.
    Mitten in der Schlucht, neben dem Weg, befand sich etwas, was auf den ersten Blick wie ein Haufen aufgeschichteter Äste und Zweige aussah. Bei näherem Hinsehen hätte man bemerkt, daß es sich um eine Art kleine Hütte oder ein großes hölzernes Tipi handelte, aus dessen Dach sich gelegentlich grauer Rauch emporkringelte.
    Der Mann in Schwarz hatte von den grünen Hügeln weit oben nun seit zwei Tagen den Holzstapel intensiv beobachtet; gelegentlich traute er sich auch etwas näher heran. Inzwischen war er zu dem Schluß gekommen, daß die Hütte von einer Frau in fortgeschrittenem Alter bewohnt wurde. Sie hatte keine Gefährten und ging keiner ersichtlichen Beschäftigung nach, außer daß sie jeden einsamen Reisenden und jedes Fahrzeug, die durch den Dyke kamen, anhielt und sich auf diese Weise wohl irgendwie die Zeit vertrieb.
    Zwar schien sie recht harmlos zu sein, aber Septimus war vor allem deshalb das letzte überlebende männliche Mitglied seiner Familie, weil er sich nicht auf den äußeren Schein verließ, und immerhin hatte diese alte Frau seinem Bruder Primus die Kehle aufgeschlitzt, da war er ganz sicher.
    Nach der Tradition der Blutrache mußte ein Leben mit einem anderen bezahlt werden; allerdings war nirgends genauer geklärt, wie man dieses Leben auszulöschen hatte. Seinem Temperament nach war Septimus ein leidenschaftlicher Giftmischer. Zwar hatte er gegen Klingen und Schlagwaffen und Bomben grundsätzlich nichts einzuwenden, aber ein Fläschchen mit klarer Flüssigkeit, die nicht durchschmeckte, wenn man sie ins Essen mischte – das war Septimus’ Metier.
    Unglücklicherweise schien die alte Frau nichts zu sich zu nehmen, das sie nicht selbst sammelte oder in ihren kleinen Fallen fing, und obwohl Septimus darüber nachdachte, ihr einen dampfenden Kuchen vor die Tür zu stellen, mit reifen Äpfeln und tödlichen Giftbeeren, so mußte er diese Idee doch bald

Weitere Kostenlose Bücher