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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Blick ausschließlich auf Tristran gerichtet. »Steh nicht rum, als wärst du stumm! Sprich! Sprich! Sprich!«
    »Ich habe nicht den Wunsch, für Euch auf dem Markt zu arbeiten«, antwortete Tristran schließlich, »denn ich habe dort selbst einiges zu erledigen. Doch wenn wir mit Euch fahren könnten, würden meine Gefährtin und ich Euch dafür entlohnen.«
    Madame Semele schüttelte den Kopf. »Das bringt mir nichts. Ich kann selbst mein Brennholz sammeln, und du wärst nur zusätzliches Gewicht für Faithless und Hopeless. Ich nehme keine Fahrgäste auf.« Damit kletterte sie wieder auf den Kutschbock.
    »Aber ich würde Euch bezahlen«, wiederholte Tristran sein Angebot.
    Die Alte lachte wiehernd und zornig. »Es gibt nichts, was du mir als Fahrpreis anbieten könntest. Also, wenn du nicht für mich auf dem Markt in Wall arbeiten willst, dann scher dich weg!«
    Tristran griff ans Knopfloch seiner Weste und fühlte dort die Glasblume, so kühl und perfekt wie immer. Jetzt zog er sie heraus und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der alten Frau entgegen. »Ihr verkauft Glasblumen, habt Ihr gesagt. Hättet Ihr Interesse an dieser hier?«
    Es war das Schneeglöckchen aus grünem und weißen Glas, wunderbar gearbeitet, wie frisch gepflückt, als läge noch der Tau auf seiner Blüte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden die Augen der Frau ganz schmal, während sie die grünen Blätter und die weiße Blüte musterte, dann stieß sie ein lautes Kreischen aus, das klang wie der Schrei eines verzweifelten Raubvogels. »Woher hast du das?« rief sie. »Gib es mir! Gib es sofort her!«
    Doch Tristran schloß die Finger um das Schneeglöckchen und trat ein paar Schritte zurück. »Hmmm«, sagte er laut. »Mir scheint, daß ich sehr an dieser Blume hänge, denn mein Vater hat sie mir geschenkt, als ich auf diese Reise ging. Vermutlich ist sie von großer persönlicher und familiärer Bedeutung. Sicher hat sie mir Glück gebracht. Vielleicht sollte ich sie lieber behalten und zusammen mit meiner Gefährtin zu Fuß nach Wall gehen.«
    Madame Semele wußte offensichtlich nicht, ob sie ihrem ersten Impuls nachgeben und mit Drohungen ihren Willen durchsetzen oder es lieber erst mit Schmeichelei versuchen sollte, und die beiden Gefühle zeigten sich so unverhohlen auf ihrem Gesicht, daß dieses fast zu vibrieren schien vor Anstrengung, die Fassung wiederzugewinnen. Endlich riß sie sich am Riemen, aber ihre Stimme war heiser vor lauter Selbstbeherrschung, als sie sagte: »Immer mit der Ruhe. Kein Grund, etwas zu überstürzen. Ganz bestimmt können wir uns einigen.«
    »Oh, das bezweifle ich«, erwiderte Tristran. »Ihr müßtet mir schon ein sehr gutes Angebot unterbreiten, mit bestimmten Garantien für unsere Sicherheit und der Gewißheit, daß Ihr mich und meine Gefährtin in Worten und Taten stets mit Wohlwollen behandelt.«
    »Laß mich das Schneeglöckchen noch einmal ansehen«, bettelte die alte Frau.
    In diesem Augenblick flatterte der bunte Vogel, die Silberkette um den Fuß, aus der offenen Wagentür, um zu sehen, was hier vor sich ging.
    »Das arme gefesselte Ding«, sagte Yvaine. »Warum laßt Ihr es nicht frei?«
    Aber die alte Frau schenkte ihr keine Beachtung, sondern antwortete auf Tristrans Frage: »Ich nehme dich mit nach Wall, und ich schwöre bei meiner Ehre und meinem wahren Namen, daß ich dir auf der Reise keinen Schaden zufügen werde, weder mit Worten noch mit Werken.«
    »Und auch nicht dadurch, daß Ihr etwas unterlaßt oder durch eine indirekte Handlung.«
    »Wie du es sagst.«
    Tristran überlegte einen Moment. Der Alten konnte man ganz gewiß nicht trauen. »Ich möchte, daß Ihr schwört, daß wir in Wall in der gleichen Verfassung ankommen, in der wir uns jetzt befinden, und daß Ihr uns unterwegs Kost und Logis zur Verfügung stellt.«
    Die alte Frau schnalzte mit der Zunge und nickte schließlich. Noch einmal stieg sie vom Wagen herab, räusperte sich und spuckte in den Sand. Dann deutete sie auf den Schleimpfropf. »Jetzt du«, sagte sie. Tristran spuckte daneben. Mit dem Fuß rieb die alte die beiden nassen Flecken ineinander. »So«, sagte sie, »eine Abmachung ist eine Abmachung. Gib mir die Blume.«
    Die Gier in ihren Augen war überdeutlich, und Tristran wurde klar, daß er bestimmt noch mehr hätte herausschlagen können, aber er gab der alten Frau die Blume seines Vaters. Als sie das Schneeglöckchen entgegennahm, verzog sich ihr Gesicht zu einem breiten, zahnlückigen Grinsen.

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