Sternwanderer
geschwebt hatte, dem sie nur um Haaresbreite entgangen war.
Als sie außer Sichtweite der Zweighütte und der tödlich weißen Felsen von Diggory’s Dyke waren, schwang sich der exotische Vogel auf seine Stange, legte den Kopf in den Nacken und jauchzte und krähte und sang, bis Madame Semele ihm mitteilte, sie würde ihm seinen blöden Hals umdrehen, wenn er nicht augenblicklich damit aufhörte. Und selbst da, in der Dunkelheit des Wageninneren, gluckste und zirpte und trillerte der hübsche Vogel vor sich hin, und einmal ahmte er sogar einen Waldkauz nach.
* * *
Die Sonne stand schon tief am westlichen Himmel, als sie sich dem Dorf Wall näherten. Sie schien ihnen direkt in die Augen, so daß sie kaum etwas sehen konnten. Um sie herum glänzte die Welt wie flüssiges Gold. Himmel, Bäume, Büsche und sogar der Weg schimmerten golden im Licht der untergehenden Sonne.
Auf der Wiese, wo sie den Stand aufbauen wollte, zügelte Madame Semele ihre Maultiere. Dann nahm sie ihnen das Zaumzeug ab und führte sie zum Bach, wo sie die beiden an einen Baum band. Die durstigen Tiere tranken gierig.
Auf der Wiese bauten bereits andere Marktleute und Besucher ihre Buden auf; überall herrschte erwartungsvolle Stimmung.
Madame Semele kletterte in ihren Wohnwagen und hakte den Käfig von der Kette. Vorsichtig trug sie ihn hinaus auf die Wiese und stellte ihn auf einen Grashügel. Dann öffnete sie die Käfigtür und angelte mit ihren knochigen Fingern nach der schlafenden Haselmaus. »Raus mit dir«, sagte sie. Die Haselmaus rieb sich mit den Vorderpfoten ihre glänzenden schwarzen Knopfaugen und blinzelte ins verblassende Tageslicht.
Die Hexe faßte in die Schürzentasche und holte eine Glasnarzisse hervor. Damit berührte sie den Kopf der Maus.
Tristran blinzelte verschlafen und gähnte. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die widerspenstigen braunen Haare und funkelte die Alte wütend an. »Du gemeine alte Vettel…«, begann er.
»Halt du nur dein dummes Mundwerk«, unterbrach Madame Semele ihn mit scharfer Stimme. »Ich hab’ dich sicher und wohlbehalten hierhergebracht, in der gleichen Verfassung, in der ich dich gefunden habe. Ich habe dir zu essen und Unterkunft gegeben, und wenn dir etwas daran nicht gefallen hat – was juckt’s mich? Jetzt verschwinde, ehe ich dich in einen Wurm verwandle und dir den Kopf abbeiße, falls ich nicht aus Versehen den Schwanz erwische. Geh! Husch, husch!«
Tristran zählte bis zehn, dann drehte er sich wenig anmutig um und ging davon. Nach etwa zwölf Metern blieb er neben einem Gebüsch stehen und wartete auf die Sternfrau, die gerade vom Wohnwagen geklettert war und ihm folgte.
»Alles in Ordnung?« fragte er, ehrlich besorgt.
»Ja, danke«, antwortete Yvaine. »Sie hat mir nichts getan. Genaugenommen hat sie, glaube ich, gar nicht bemerkt, daß ich überhaupt da war. Ist das nicht sonderbar?«
Jetzt hatte sich Madame Semele vor den Vogel gesetzt. Auch seinen gefiederten Kopf berührte sie mit ihrer Glasblume, bis der Vogel sich reckte und streckte und sich schließlich in eine junge Frau verwandelte, dem Äußeren nach nicht viel älter als Tristran, mit dunklen, lockigen Haaren und pelzigen Katzenohren. Sie warf Tristran einen Blick zu, und in ihren violetten Augen war etwas, was Tristran sehr, sehr vertraut vorkam, obgleich er sich absolut nicht erinnern konnte, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
»Also das ist die wahre Gestalt des Vogels«, sagte Yvaine. »Sie war eine gute Reisegefährtin.« Da bemerkte sie, daß die Silberkette, die den Vogel gefangen gehalten hatte, noch immer da war, auch jetzt, da der Vogel zu einer Frau geworden war; die Kette glitzerte an ihrem Hand- und Fußgelenk, und Yvaine machte Tristran darauf aufmerksam.
»Stimmt«, entgegnete er. »Ich sehe es. Wirklich schrecklich. Aber ich bin nicht sicher, ob wir etwas dagegen unternehmen können.«
Nebeneinander überquerten sie die Wiese in Richtung Maueröffnung. »Zuerst besuchen wir meine Eltern«, erklärte Tristran. »Bestimmt haben sie mich genauso vermißt wie ich sie« – obwohl Tristran, um die Wahrheit zu sagen, auf seiner Reise eigentlich kaum einen Gedanken an seine Eltern verschwendet hatte – »und dann gehen wir zu Victoria Forester und…« Bei diesem »Und« klappte Tristran plötzlich den Mund zu. Denn er brachte seine frühere Idee, die Sternfrau Victoria Forester zu schenken, überhaupt nicht mit seinen gegenwärtigen Gefühlen unter einen Hut – nämlich
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