Still und starr ruht der Tod
einen Milchkaffee. »Was meinen Sie mit ›ausgerechnet Rita‹?«
»Na, irgendwie ist es typisch, dass ausgerechnet sie sich aus dem Staub macht und alle anderen in Unruhe stürzt.«
»Das müssen Sie mir genauer erläutern.« Sie winselt ständig über Rita, notierte Katinka im Stillen. Dabei haben ihr die anderen bestimmt längst gesteckt, dass Ivo tot ist. Interessiert sich eigentlich jemand für den armen Kerl?
»Rita ist eine begabte und tatkräftige Frau. Ich habe ihre Fähigkeiten immer geschätzt. Im Kurs – ich meine, damals, als unsere Treffen ein richtiger Kurs waren – war ich begeistert von ihr. Sie konnte so fesselnd über Literatur sprechen. Ich wünschte damals, ich hätte auch studiert. Habe ich aber nicht. Ich habe nicht mal Abitur.«
Die Getränke kamen. Im Café war es stickig. Es roch nach nassen Mänteln. Aus der Musikbox dudelten amerikanisch verkitschte Weihnachtssongs.
»Mittlerweile ist ihr Kurs kein richtiger Kurs mehr, oder?«
»Wir blieben privat zusammen. Sobald mit den Treffen der Zwang verbunden war, kochen zu müssen, nahm die Qualität der Bücherdiskussionen ab. Ich meine, ich koche ja gern. Aber man beschäftigt sich dann einfach mehr mit dem Essen.«
»Man kann sich eben nur auf eins konzentrieren.« Katinka umklammerte ihre Tasse. Der Kaffeeduft ließ sie für einen ganz kurzen Moment alles andere vergessen.
»Nicht, dass ich gegen das neue Format bin. Das ist schon gut, so wie es ist.« Margot verfiel in Schweigen.
»Was enttäuscht Sie denn sonst?«, fragte Katinka sanft. Aus Margots Gesicht sprachen Trauer, Einsamkeit und Resignation. Die Frau versuchte nicht einmal, es zu verbergen. Ihr Blick wanderte durch die Fenster des Cafés auf den Rathausplatz. Es schneite wieder heftiger.
»Mistwetter.« Margot Scheinfelder trank von ihrem mit Rum aufgepeppten Kaffee. »Hm. Das entspannt.«
Katinka wartete ab. Sie würde auch ein Glas Rosé oder zwei spendieren, um das Gespräch in die Tiefe zu führen.
»Ich habe nichts Anständiges gelernt. Mit meinem Job kann ich noch froh sein. Wenn ich hätte studieren können, so wie Rita … Aber das stand außer Frage. In meiner Familie hat niemand studiert. Ich konnte nicht aus der Art schlagen. Hätte mein Abitur allenfalls nachmachen können.«
»Also müssen die Treffen unter Ritas Ägide Sie doch inspiriert haben!«
»Rita hat sich verändert. Wir sind fast gleich alt. Durch unser Buchhobby haben wir einander über viele Jahre hinweg begleitet. Ich bin Single. Wie Rita. Ich kenne die Schwierigkeiten, die man hat, wenn man allein lebt. Ich habe eine hohe Meinung von Rita. Sie ist scharfsinnig, klug und zielstrebig. Sie erreicht, was sie sich vorgenommen hat. Dennoch …«
»Sie haben sich von Rita etwas erhofft, was diese nicht geben konnte?« Katinka verließ sich auf ihr Gefühl. Irgendeine Sache war im Schwange, die Margot nicht auszusprechen wagte. Wahrscheinlich nie ausgesprochen hatte.
»Rita lebt total rücksichtslos. Nach ihrem eigenen Gutdünken. Sie fragt nicht, ob sie damit andere vor den Kopf stößt. Ihre persönliche Freiheit geht ihr über alles.« Auf Margots Wangen erschienen rote Flecken.
Katinka wartete. Die Hochachtung für die großartige Rita Weiß war in Hass umgeschlagen, ausgelöst durch zu hohe, unrealistische Erwartungen an eine Freundschaft, die keine war.
»Daher meinte ich, es ist typisch für sie, sich in Luft aufzulösen. Ihr ist es einerlei, ob wir uns Sorgen machen. Und ihrer französischen Freundin gegenüber ist es ja wohl alles andere als fair.«
»Würden Sie Rita als egoistisch bezeichnen?«
»Egoistisch? Zu schwach. Egozentrisch. Egomanisch. Sie ist die Sonne, und alle Planeten müssen um sie kreisen. Studierte sind letztlich nichts als … als selbstgerechte, arrogante Idioten.« Die letzten Worte zischte Margot nur noch.
»Wo ist Rita jetzt?«
»Ich wette, sie hatte keinen Unfall. Sie ist einfach auf und davon.«
»Wohin?«
»Ich habe keine Ahnung. Sie weiht nie jemanden ein in das, was sie vorhat.«
»Muss sie ja auch nicht«, gab Katinka zu bedenken.
»Muss sie nicht, nein. Sie könnte es aber aus Höflichkeit tun, oder weil ihre Freunde ihr am Herzen liegen. Daran sieht man, dass ihr die Mitmenschen am Hinterteil vorbeigehen.«
»Und Ivo?«
Margot wurde blass. Sie nahm rasch einen Schluck Pharisäer. Ihre Hände zitterten. »Das ist schrecklich. Ganz schrecklich. Wir wissen gar nicht, wann die Beerdigung stattfinden kann. Er wird obduziert, oder?«
»Genau. Konnte
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