Stille Nacht
das kostet Brian nun
vielleicht das Leben.
Sie stand auf, um nach Gigi zu sehen. Wie gewöhnlich war es
dem kleinen Mädchen gelungen, einen Fuß aus den
straffgezogenen Decken herauszuarbeiten. Sie machte das jede
Nacht, selbst dann, wenn es kalt im Zimmer war.
Cally steckte die Bettdecken um die Schultern ihrer Tochter
fest, berührte dann den kleinen Fuß und verstaute ihn ebenfalls.
Gigi regte sich. »Mommy«, sagte sie schläfrig.
»Ich bin ja bei dir.«
Cally ging ins Wohnzimmer zurück und warf einen kurzen
Blick zu dem Fernsehschirm hinüber, lief dann hastig hin, um
den Ton laut zu stellen. Nein! Nein! dachte sie, als sie den
Berichterstatter erklären hörte, die Polizei habe jetzt die
Erkenntnis gewonnen, daß der vermißte Junge von dem aus dem
Gefängnis ausgebrochenen Polizistenmörder Jimmy Siddons
gekidnappt worden sei. Die Polizei hält jetzt bestimmt mich für
die undichte Stelle, dachte sie voller Panik. Die glauben
bestimmt, ich hätte es irgendwem verraten. Ganz bestimmt
werden die das glauben.
Das Telefon läutete. Als sie den Hörer abnahm und Mort
Levys Stimme vernahm, brachen mit einemmal die
unterdrückten Empfindungen, die ihr so festgefroren
vorgekommen waren, aus ihr heraus. »Ich war’s nicht«,
schluchzte sie. »Ich hab’s keinem gesagt. Ich schwör’s, ich
schwör’s, daß ich’s keinem gesagt habe.«
Das gleichmäßige Auf und Ab von Brians Brustkorb verriet
Jimmy Siddons, daß seine Geisel schlief. Gut, dachte er, besser
für mich. Das Problem war, daß der Kleine Grips hatte. Genug
Grips, um zu wissen, daß er nicht riskiert hätte, überfahren zu
werden, wenn es ihm gelungen wäre, sich in der Nähe des
Seitenstreifens aus dem Wagen zu werfen. Wenn dieser
Vollidiot nicht aus der Spur ausgeschert wäre und den
Auffahrunfall verursacht hätte, wäre jetzt alles vorbei für mich,
dachte Jimmy. Der kleine Kerl wäre abgehauen, und die
Troopers hätten mich in Null Komma nichts am Wickel gehabt.
Es war nach elf Uhr. Der Junge mußte ja müde sein. Mit
etwas Glück würde er sowieso ein paar Stunden schlafen. Selbst
bei den verschneiten Straßen mußten sie in spätestens drei oder
vier Stunden an der Grenze sein. Danach ist es dann noch für
eine lange Zeit dunkel, dachte Jimmy mit Befriedigung. Er
wußte, daß er sich auf Paige verlassen konnte und sie auf der
kanadischen Seite bereits wartete. Sie hatten sich auf einen
Treffpunkt im Wald etwa drei Meilen von der Zollkontrolle
entfernt geeinigt.
Jimmy überlegte, wo er den Toyota am besten zurücklassen
sollte. Es gab nichts, was ihn mit dem Wagen in Verbindung
brachte, solange er alle Fingerabdrücke gründlich abwischte und
nichts darin zurückließ, das ihn verriet. Vielleicht würde er ihn
irgendwo in den Wäldern verstecken.
Auf der anderen Seite… Er dachte an den Niagara, bei dem er
die Grenze überqueren würde. Der Fluß hatte eine starke
Strömung, also war die Wahrscheinlichkeit groß, daß er nicht
eingefroren war. Wenn er Glück hatte, kam der Wagen vielleicht
nie zum Vorschein.
Was war mit dem Jungen? Schon während er sich diese Frage
stellte, wußte Jimmy, er würde auf keinen Fall das Risiko
eingehen, daß man den Jungen in der Nähe der Grenze fand und
er dann über ihn quatschen konnte.
Paige hatte allen ihren Freunden erzählt, daß sie nach Mexiko
ginge.
Tut mir leid, Kleiner, dachte Jimmy. Dort sollen die Cops nun
mal nach mir suchen.
Er überlegte eine Weile, kam dann zu dem Schluß, daß der
Fluß die geeignete Lösung für das Auto und den Jungen war.
Nachdem er die Entscheidung gefällt hatte, spürte Jimmy, wie
die Anspannung in seinem Körper etwas nachließ. Mit jeder
Meile gewann er an Zuversicht, daß er es schaffen würde, daß
Kanada und Paige und die Freiheit in greifbarer Nähe waren.
Und mit jeder Meile war er stärker darauf versessen - und fester
entschlossen -, daß ja nichts passierte, was ihm die Sache noch
vermasseln konnte.
Wie beim letztenmal. Es war alles bestens vorbereitet
gewesen. Er hatte Callys Auto, hundert Dollar und war auf dem
Weg nach Kalifornien. Dann fuhr er bei Gelb noch auf der Ninth
Avenue über eine Kreuzung und wurde angehalten. Der Cop, ein
Kerl von ungefähr Dreißig, tat sich fürchterlich wichtig. Er war
an die Scheibe der Fahrerseite herangekommen und hatte in
äußerst sarkastischem Ton gesagt: »Führerschein und
Wagenpapiere, Sir.«
Das war alles, was er hätte zu sehen brauchen, dachte
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