Stille Nacht
Ohnmacht fiel.
Doch dann schlug sie gleich wieder die Augen auf und beugte
sich zu ihrem älteren Sohn, um ihn zu umarmen. »Wir dürfen
nicht vergessen, daß Brian die Christophorus-Medaille hat«,
sagte sie leise.
Die Maske aufgesetzten Heldentums, die Michael während
der ganzen Zerreißprobe dieses Abends aufrechtzuerhalten
vermocht hatte, bröckelte nun sichtbar. »Ich will nicht, daß
Brian was passiert«, schluchzte er.
Catherine strich ihm über den Kopf. »Ihm wird nichts
passieren«, stellte sie ruhig fest. »Glaub daran, und halt dich
daran fest.«
Rhodes konnte sehen, welche Anstrengung es sie kostete, zu
reden. Wer zum Teufel hatte es an die Medien durchsickern
lassen, daß Brian in der Gewalt von Jimmy Siddons war? fragte
er sich wütend. Rhodes konnte spüren, wie es seine Faust juckte,
mit diesem Schuft Kontakt aufzunehmen, der das Leben des
Jungen so gedankenlos aufs Spiel gesetzt hatte. Sein Zorn
entflammte sich noch heftiger bei dem Gedanken, daß sich
Siddons, falls er gerade Radio hörte, bestimmt als erstes den
Jungen vom Hals schaffen würde.
Catherine sagte soeben: »Mutter, weißt du noch, wie Dad uns
immer von dem Weihnachtsabend erzählt hat, als er erst
zweiundzwanzig Jahre alt war und mitten in der
Ardennenoffensive steckte, und wie er ein paar Soldaten aus
seiner Kompanie in einen der Orte kurz hinter der Front
mitnahm? Warum erzählst du Michael nicht davon?«
Ihre Mutter griff die Geschichte auf und begann, während ihr
Blick in die Ferne ging: »Es war über feindliche
Kampfhandlungen dort berichtet worden, doch wie sich dann
herausstellte, stimmte das nicht. Auf dem Rückweg zu ihrem
Bataillon kamen sie an der Dorfkirche vorbei. Die Christmette
hatte gerade angefangen. Sie konnten sehen, daß die Kirche
dicht gefüllt war. Inmitten all der Furcht und Gefahr hatten die
Leute alle ihre Häuser für den Gottesdienst verlassen. Ihre
Stimmen, die ›Stille Nacht‹ sangen, drangen bis auf den
Marktplatz heraus. Dad hat gesagt, daß es das Allerschönste
war, was er je gehört hat.«
Barbara Cavanaugh lächelte ihren Enkel an. »Grandpa und die
anderen Soldaten gingen in die Kirche. Grandpa hat mir immer
erzählt, was für eine schreckliche Angst sie alle gehabt hatten,
bis sie dann den Glauben und den Mut dieser Dorfleute sahen.
Diese Leute hatten sich dort eingefunden, obwohl rings um sie
herum heftig gekämpft wurde. Sie hatten fast nichts zu essen.
Trotzdem glaubten diese Dorfbewohner daran, daß sie diese
schreckliche Zeit irgendwie durchstehen würden.«
Ihre Unterlippe bebte, aber ihre Stimme klang beherrscht,
während sie weitersprach. »Grandpa hat gesagt, das war der
Moment, als er wußte, daß er wieder zu mir heimkommen
würde. Und eine Stunde später hat die Christophorus-Medaille
die Kugel davon abgehalten, ihn ins Herz zu treffen.«
Catherine blickte über Michaels Kopf hinweg auf Officer
Ortiz. »Könnten Sie uns jetzt zur St. Patrick’s Cathedral
bringen? Ich möchte in die Christmette gehen. Wir müssen
irgendwo sitzen, wo Sie mich rasch finden können, falls Sie
etwas Neues erfahren.«
»Ich kenne den Küster dort, Ray Hickey«, sagte Ortiz. »Ich
kümmere mich drum.«
Sie schaute Detective Rhodes an. »Ich erhalte sofort
Nachricht, wenn Sie auch nur irgend etwas erfahren…?«
»Selbstverständlich.« Er konnte sich nicht verkneifen,
hinzuzufügen: »Sie sind sehr tapfer, Mrs. Dornan. Und eins
kann ich Ihnen versichern: Jeder Polizeibeamte im Nordosten
setzt alles daran, Brian wohlbehalten zurückzubringen.«
»Das glaube ich Ihnen, und die einzige Art, wie ich Ihnen
helfen kann, ist zu beten.«
»Keiner von unsern Jungs hat geplaudert«, berichtete Mort Levy
seinem Chef Folney knapp. »Offenbar hat irgend so ein junger
Wichtigtuer von WYME Callys Wohnung im Visier gehabt und
uns reingehen sehen, hat gemerkt, daß sich was tut, und ist Aika
Banks nach Hause gefolgt. Er hat ihr weisgemacht, er wäre ein
Cop, und sie ausgehorcht. Er heißt Pete Cruise.«
»Verdammt gut, daß es keiner von uns war. Wenn das alles
vorüber ist, ziehen wir Cruise das Fell über die Ohren, weil er
sich als Polizist ausgegeben hat«, sagte Folney. »In der
Zwischenzeit haben wir hier ‘ne Menge zu tun.«
Er stand vor einer riesigen Landkarte des Nordostens der
USA, die an der Wand seines Büros befestigt worden war.
Kreuz und quer waren Routen in verschiedenen Farben darauf
eingezeichnet. Folney griff nach einem
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