Stille Seele (German Edition)
nur verständlich, wenn sie es vergessen oder sich dagegen entschieden hätten, die weite Strecke zu fahren.
Trotzdem tat die Gewissheit, dass niemand hier draußen auf ihn wartete, weh. Traurig verschwendete Jakob einen kurzen Gedanken an Julie, die er seit über zwei Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte. Er hätte im letzten Monat die Möglichkeit gehabt, sie anzurufen, aber er erinnerte sich noch sehr gut an sein Versprechen an Cas, sie nicht aus einem Neuanfang zu reißen. Auch Cas hatte er nicht anger ufen. Viel zu deutlich konnte er sich vorstellen, was er zu sagen hatte. Ärgerlich schüttelte Jakob den Kopf und stand dann auf.
Einer der Beamten trat aus dem Empfangshäuschen. „Soll ich dir ‘n Taxi rufen?“ Er lächelte Jakob freundlich an und hatte bereits den Hörer in der Hand, ließ ihn aber sinken, als Jakob den Kopf schüttelte.
„Nein, danke, ich laufe!“ Jakob schulterte seine Taschen und hob zum Abschied seine Hand. Nicht alles, was er in den letzten zwei Jahren erlebt hatte, war schlecht. Zugegeben, das Knastleben war nicht einfach und er hatte mehr als einmal zu spüren bekommen, was es hieß, sich mit den falschen Leuten anzulegen, aber nach und nach bekam man raus, wie der Hase lief. Unbestimmt fuhr er sich über die kleine Narbe auf seiner Augenbraue, die aus seiner Anfangszeit hier stammte, und seufzte tief. Sie hatten ihm einen Psychologen an die Seite gestellt, der nach monatelangem Mauern seinerseits tatsächlich ein wenig seines Traumas mit Jakob aufgearbeitet hatte.
Ein Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Der silberne Chevrolet hielt geradewegs auf ihn zu und Sarah hing seitlich aus dem Beifa hrerfenster. Ein breites Grinsen überflog Jakobs Gesicht.
Paul hielt den Wagen unmittelbar neben ihm und sprang heraus. Mit wenigen Schritten überwand er die Distanz zwischen sich und seinem Bruder und schloss ihn in die Arme. Danach folgte Sarah.
Jakob stellte die Tasche und den Rucksack vor sich und blinzelte die beiden verlegen an. Eines der Dinge, die er in den letzten zwei Jahren verloren hatte, war, einfach seine Gefühle offen zu zeigen.
„Mama und Dad sind nicht mitgekommen?“ Jakob konnte die En ttäuschung hinter seinen Worten nicht ganz verbergen, obwohl er sich vorgenommen hatte, keine Erwartungen an seine Mitmenschen zu stellen.
„Sie wären wirklich gerne gekommen, aber es geht Dad nicht so gut und Mama kann mit ihrem Rücken auch nicht so lange im Auto sitzen. Sie werden eben langsam alt, aber wehe, du behauptest so etwas in ihrer Gegenwart!“
„Sind sie schon in Rente?“ Jakob spürte schmerzhaft, wie viel er verpasst hatte.
„Dads Antrag auf Frührente wegen des Herzens ist seit einem ha lben Jahr durch und Mom fehlen noch zwei Jahre, bis sie aufhören kann!“ Pauls Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wie geht es dir, Jay?“
„Ganz gut, denke ich!“ Jakob versuchte, seiner Stimme etwas Leichtigkeit zu verleihen. „Jetzt noch besser!“ Er deutete auf den Wagen. „Ich dachte, ich muss den ganzen Weg bis zum Bahnhof la ufen!“
„Hast du echt gedacht, wir kommen nicht?“
„Ich hätte es euch nicht verdenken können!“ Seine Stimme wurde etwas leiser. „Ist ziemlich viel schiefgelaufen, aber hey, ich bin jetzt staatlich geprüfter KFZ-Mechaniker. Sollten wir eine Panne haben, kann ich uns da rausholen!“ Er zuckte unsicher mit den Schultern. „Ich hoffe, damit finde ich etwas Vernünftiges und es kehrt ein bisschen Ruhe ein!“
„Das ist gut, Jay, wirklich! Lass uns nach Hause fahren!“
„Ja!“ Es stimmte, alles sah aus, als würde es sich zum Guten wenden, aber Jakob wusste, dass ihm das nicht reichen würde. Schon als Paul vorgeschlagen hatte, nach Hause zu fahren, hatten sie an unterschiedliche Orte gedacht. Und auch wenn Jakob wusste, dass er die verboten egoistische Stimme in seinem Kopf ignorieren musste, würde sie nicht verstummen. Würde ihm zuschreien, dass nur ein Mensch das Potenzial hatte, ihm wieder das Gefühl zu geben, ganz zu sein. Julie! Sie und die Menschen in Marble Hills und der Ort an sich hatten ihn schon einmal geheilt und Jakob war sich sicher, dass es wieder funktionieren würde. Nur würde er dem Drängen in seinem Inneren nicht nachgeben. Er hatte schon damals etwas tun wollen, um ein besserer Mensch zu sein. Der Einsatz in Afghanistan hatte diesen Wunsch nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Wer liebt, ist bereit zu verzichten, und das würde er tun. Verzichten und ihr den Frieden lassen, den sie verdiente.
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