Stille Seele (German Edition)
könnte vieles, was er gesagt oder getan hatte, ungeschehen machen. Musste man erst den einen Menschen in sich aufgeben und einen anderen neu aufbauen, um zu erkennen, was richtig ist und wertvoll?
In Jakobs Fall war es ganz dem Klischee entsprechend so gewesen. Er war naiv, störrisch und undankbar gewesen. Hatte sich von der Familie abgegrenzt und keinen Ratschlag ernst genommen. Als er die Konsequenzen seines Handelns zu spüren bekommen hatte, war ihm bereits klar gewesen, dass er die falschen Entscheidungen getroffen hatte, aber er war zu verbohrt gewesen, die Schuld bei sich allein zu suchen. Seine Art, seine Familie und insbesondere seinen Vater für alles verantwortlich zu machen, was bei ihm schieflief, hatte dazu geführt, dass zwischen ihnen eine breite Kluft entstanden war. Jakob hoffte inständig, dass die Emails und Briefe der letzten Monate, die zwar einiges, aber längst nicht alles geklärt hatten, ihm helfen würden, wieder ein Teil der Familie zu sein.
Knappe zwei Stunden später ruckelte der Zug und hielt dann mit quietschenden Bremsen am Bahnhof von Jabehill. Jakob warf seine zwei Taschen auf den Bahnsteig und stieg aus. Für einen Moment schloss er die Augen und sog tief die vertraute Luft ein. Es roch tatsächlich wie das lange vermisste Zuhause. Aus irgendeinem Grund hatte Jakob angenommen, dass dieser unverwechselbare Geruch nur in seiner Erinnerung existierte, weil er etwas gebraucht hatte, an dem er sich hatte festhalten können. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Der Zug hinter ihm setzte sich wieder in Bewegung und erinnerte Jakob daran, dass er ein Ziel hatte. Seufzend schulterte er seine Taschen und verzog das Gesicht, als das Gewicht der leichteren Tasche auf seine noch nicht vollständig verheilte Wunde drückte. Seine Verwundung lag jetzt etwas mehr als acht Wochen zurück, die er gemeinsam mit Connor in einem Militärkrankenhaus in Deutschland verbracht hatte, und noch immer konnte er sein Bein und seine Schulter nicht vollständig belasten, aber er hatte gelernt, das leichte Humpeln gut zu verbergen. Connor würde noch eine weitere Woche in Deutschland bleiben und, wenn alles nach Plan verlief, danach nach Lincoln fliegen, wo Jakob ihn übernächste Woche abholen würde. Seufzend erinnerte Jakob sich an ihren Plan, der – vorsichtig ausgedrückt – schwere Schwachstellen hatte, und trotzdem war dieser Plan alles, was sie hatten.
Er erinnerte sich noch genau an seinen ersten Besuch bei Connor. Das war eine Woche nach dem Unfall gewesen. Noch immer fühlte Jakob sich wie betäubt und starrte von seinem Rollstuhl aus stumm auf den schlafenden Körper seines Freundes, bis er nach etwas mehr als einer Stunde schließlich die Augen öffnete. Nicht weiter als einen kleinen Schlitz. Seine Worte waren kaum zu verstehen bei dem geschäftigen Treiben auf der Station, und dennoch erinnerte sich Jakob an jedes einzelne von ihnen.
„Die Stille hat uns wohl doch eingeholt, was!“ Das schwache L ächeln hatte kläglich gewirkt und Jakob die Tränen in die Augen getrieben. Connor hatte in Worte gefasst, wie er sich fühlte – stumm, innerlich zu Eis erstarrt.
„Was sollen wir jetzt tun?“ Jakobs Stimme war nur ein Flüstern gewesen und dennoch hatte er sich hektisch in dem Mehrbettzimmer umgesehen. Außer Connors waren nur zwei Betten belegt. In einem lagen zerwühlte Decken, aber der Patient war gerade nicht da. Im anderen lag ein frisch operierter junger Soldat, der den Rausch seiner Narkose ausschlief. Jakob entspannte seine schmerzenden Schultern.
„Was können wir schon tun?“ Connor schloss blass seine Augen.
Noch leiser fügte Jakob hinzu: „Ich werde nicht zurückgehen!“
„Allein für den Gedanken gehst du in den Knast, das ist dir hoffentlich klar, Jakob!“
Jakob zuckte verzweifelt mit den Schultern. „Ich weiß! Aber ich habe mich erkundigt und das ist die einzige Möglichkeit. Es sei denn, du willst gerne zurück!“ Fragend zog er die rechte Augenbraue in die Höhe und registrierte das leichte Kopfschütteln Connors.
„Es muss doch auch anders gehen!“ Connor drehte sich leicht zur Seite und verzog vor Schmerz das Gesicht.
„Ich habe mich erkundigt und alle Möglichkeiten durchgespielt!“ Jakob beugte sich etwas weiter vor und flüsterte dicht an Connors Wange. „ Wenn wir einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung ste llen, dauert das bis zu einem Jahr, bis wir mit einer Entscheidung rechnen können. Ein Jahr, in dem sie uns bei unserer Einheit
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